Die ganze Schweiz scheint im Winterschlaf zu liegen: Bürolisten stecken im Homeoffice fest, Beizen, Bars und Läden sind dicht. Nur an einem Ort begegnen Menschen einander noch immer tagtäglich auf engstem Raum – in der Schule.
Das Virus, so lautete seit Ausbruch der Pandemie eine beruhigende Gewissheit, hatte zumindest mit der Jugend ein Nachsehen. Doch selbst mit dieser Gewissheit ist es vorbei.
Eine Studie aus Genf stellt nun fest: Kinder und Jugendliche stecken sich überdurchschnittlich häufig an und spielen bei der Verbreitung von Covid-19 eine entscheidende Rolle. Auch Daten des Bundesamts für Gesundheit zeigen eindeutig: Die Fallzahlen bei Primarschülern haben sich im Januar mehr als verdoppelt.
Testen, testen und nochmals testen
Seitdem vergeht kein Tag ohne Corona-Alarm im Klassenzimmer. Mehr als 100 Schulen meldeten seit Jahresbeginn Ausbrüche, von Frenkendorf BL bis Tenero TI. Gut 40 000 Menschen sitzen in Isolation oder Quarantäne.
Seit kurzem sammeln besonders Besorgte Meldungen von anonymen Zuträgern und basteln daraus eine interaktive Karte mit gelben Gefahrensymbolen. Für jedes betroffene Schulhaus ein Seuchenstempel.
Der Ausweg aus der Misere? Testen, testen, testen, so das Mantra der Wissenschaft. Die Genfer Virologin Isabella Eckerle (41) wird nicht müde zu betonen, dass Kinder gleich oft zu testen seien wie die restliche Bevölkerung.
Manche Kantone nehmen sich das zu Herzen. Nach den Sportferien wartet auf Zuger Schüler gleich die nächste Leibesübung: Zweimal wöchentlich treten nun alle ab der Sekundarstufe zum Spucktest an. Die Teilnahme ist obligatorisch und gilt auch für Symptomfreie. Basel-Landschaft, Appenzell Innerrhoden und Graubünden planen ebenfalls präventive Massentests, allerdings freiwillig.
«Wir sind zum Schluss gekommen, dass der Spucktest verhältnismässig ist», meint Stephan Schleiss (48), Zuger Regierungsrat. Dagmar Rösler (48), oberste Lehrerin im Land, spendete dem Obligatorium diese Woche bereits Beifall.
Eltern wehren sich gegen Testzwang
Doch bevor die erste Spucke gesammelt ist, keimt bereits Widerstand. Eltern wehren sich mit Unterlassungsschreiben und Dispensen dagegen, dass ihr Nachwuchs zum Test gezwungen wird. Die Zuger Bildungsdirektion bestätigte gegenüber SonntagsBlick, dass solche Schreiben in ihrem Haus sowie in Schulen des Kantons eingehen.
Und die Reaktion der Behörde? Wer nicht spurt, für den seien «disziplinarische Ansätze denkbar, beispielsweise eine Wegweisung», heisst es dort. Ein Recht auf Fernunterricht entstehe durch solche Schreiben nicht. In Zug heisst es also bald: Spucken oder Schulverbot.
Wie ist das mit der Schulpflicht in der Schweiz vereinbar? Die Behörde stützt sich auf das eidgenössische Epidemiengesetz sowie auf das Gesundheitsgesetz des Kantons, räumt aber ein: «Die gesetzliche Grundlage für die Umsetzung an den Schulen ist noch in Entstehung, sie soll nächste Woche durch den Regierungsrat beschlossen werden.»
Alle schauen nach Zug
Die Rechtslage ist wackelig. «Kantone können Massnahmen gegenüber Personen anordnen, die krank, krankheitsverdächtig, angesteckt oder ansteckungsverdächtig sind», sagt Felix Uhlmann (51). Für obligatorische Massentests an Gesunden jedoch sieht der Staatsrechtsprofessor der Universität Zürich keine Handhabe. Ob die Zuger Regierung so etwas ohne Zustimmung des Parlaments verfügen könne, sei fragwürdig, so Uhlmann.
Wie auch immer – Schulleiter blicken dieser Tage von überall her im Land auf Zug. So auch Thomas Weyermann, Gesamtschulleiter in Biberist SO, der eben erst eine Klasse wegen Quarantäne in die verfrühten Sportferien schickte: «Zug geht voraus, wir schauen gespannt, wie sich die Lage dort entwickelt.» Als er das sagt, wird klar, dass sich auch bei ihm Eltern im Widerstand befinden. Weyermann: «Manche legen den Lehrpersonen ein Schreiben zur Unterschrift vor, das Tests, Impfungen oder Ähnliches untersagt.»
Isolation kam zu spät
Es knirscht nicht nur zwischen Eltern und Schule. Auch Kantone und Bildungsstätten sind sich nicht immer einig, wie ein Fall an einer Zürcher Primarschule zeigt.
Am 30. Januar erhielten Eltern die Nachricht, dass sich in zwei Klassen je ein Kind mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Laut dem Schreiben, das SonntagsBlick vorliegt, isolierte man Kinder.
Wie sich bald herausstellte, war das zu spät: Im ersten Fall hatte sich bereits eine Lehrkraft infiziert. Das kantonale Contact Tracing sah zunächst davon ab, die gesamte Klasse in die Quarantäne zu schicken, da die Schutzmassnahmen «vollumfänglich» eingehalten werden konnten.
Wenig später revidierte das Contact Tracing sein Urteil und schickte die Klasse in Quarantäne – um sie zwei Tage später gleich wieder aufzuheben. Damit wiederum gab sich die Schulleitung nicht zufrieden und verlängerte die Quarantäne eigenhändig.
Der Bitte, man möge aufgrund der Fälle alle Klassen testen, kam das Contact Tracing nicht nach.
Dazu Beat Lauper, Leiter Steuerungsgruppe Contact Tracing: «Weil wir es nicht mit dem mutierten Virus zu tun hatten, genügten die üblichen Schutzmassnahmen und Abläufe.»
Breit getestet wird also nur dort, wo die neue Virusvariante vermutet wird. Das zeigt auch das Beispiel Volketswil ZH: Wegen Verdacht auf eine mutierte Virusvariante wurden vor zwei Wochen Schüler von 24 Klassen notfallmässig getestet. Zwar fand man keine Mutation, doch bei sieben Prozent der Schüler und Lehrpersonen wurde das Coronavirus nachgewiesen.
Diese Woche traf es Mellingen AG und Wohlenschwil AG: In Kindergarten und Primarschule meldeten sich sieben Schüler mit Corona ab – vier davon mit der mutierten Variante. Was folgte, zeigt, wie schnell es dieser Tage gehen kann.
«Auf einen Schlag waren da rund 700 Kinder in Quarantäne», sagt Simon Koller von der Schulpflege. Der Kantonsarzt habe dann beschlossen, dass sich alle Schüler testen lassen müssen. «Das Ausmass hat uns beeindruckt», sagt Koller.
Zwei Tage, um Nachwuchs zu untersuchen
Ein Massentest an der Schule selbst war zunächst nicht vorgesehen. Der Aargau verfügt über kein mobiles Testteam.
Die Eltern erhielten lediglich zwei Tage Zeit, um den Nachwuchs untersuchen zu lassen. «Die Testzentren der Region wurden überrannt», sagt Koller. Das Personal des Kantonsspitals Baden staunte, als urplötzlich Hunderte Eltern um Termine nachsuchten. Sogar das Lokalfernsehen berichtete.
Meldungen rissen nicht ab
Die Übung wurde abgebrochen, stattdessen beorderte man das Spitalpersonal in die Schule: antraben zum Nasenabstrich in der Turnhalle. «Hochprofessionell und sehr menschlich» sei mit den Kindern umgegangen worden», lobt Schulpfleger Koller.
Bis Redaktionsschluss am Samstag rissen die Meldungen auf dem Schulradar nicht ab. Köniz BE schickt 480 Kinder in den Fernunterricht. Flawil SG lässt 177 Schüler zum Test antraben. In Russikon ZH müssen 500 Schüler am Montag das Prozedere über sich ergehen lassen.
Kein Tag mehr ohne Corona-Alarm im Klassenzimmer.