Gehen ist für die meisten von uns etwas Selbstverständliches, wir denken nicht darüber nach. Was bedeutet es für Sie?
Gehen ist das, wozu wir als Menschen gemacht sind. Auto-, Velofahren – das ist alles zu schnell. Damit wir riechen, sehen, spüren, was um uns herum passiert, um die Dinge einordnen zu können, braucht es das richtige Tempo: langsam.
Dazu reichte auch eine Wanderung im Berner Oberland. Sie sind aber monatelang dort unterwegs, wo der Tod überall lauert. Was ziehen Sie daraus?
Mein Ego spielt keine Rolle. Mich treibt Neugier an. Ich will einfach nur gehen und sehen, was das mit mir macht. Dadurch entdecke ich mich selber. Wenn ich gehe, spüre ich Dinge auf der Haut, höre Geräusche von weit her. Das Gehen schärft meine Sinne und meinen Instinkt. Ich werde zu einem Tier.
Flüchten Sie vor der Welt, den Menschen?
Im Gegenteil. Ich will eine Brücke zwischen der Natur und dem Mensch sein. Ich benutze meinen Körper, um zu verstehen, zu was wir alles fähig sind. Die Natur hilft mir dabei. Ich will meine Grenzen pushen. Auf meinen Reisen habe ich erfahren: Es gibt keine Türe, die man nicht öffnen kann, jede Türe ist bloss ein weiterer Schritt.
Manche Grenzen sind aber unüberwindbar. Haben Sie nie Angst vor dem Tod?
Der Tod ist mein ständiger Begleiter. Was ich tue, hat seinen Preis. Null Risiko gibt es nirgends. Damit kommt man in der Schweiz schlecht klar, man will sich gegen alles versichern, fürs Rentenalter vorsorgen. So ein Leben kann ein Gefängnis sein. Man wagt nichts mehr. Für mich liegt die Magie meiner Expeditionen darin, eben genau nicht zu wissen, ob ich sie bis zum Ende durchstehe.
Jeder Mensch hat Angst. Was fürchten Sie?
Menschenansammlungen. Ich kann nicht mehr an Konzerte oder einen Fussballmatch gehen. Das überfordert mich. Aber Angst ist nichts Schlechtes.
Aufgewachsen ist Sarah Marquis im jurassischen Dorf Montsevelier. Schon mit 17 ritt sie allein auf einem Pferd durch die Türkei. Später machte sie nur noch zu Fuss Expeditionen. Unter anderem von Sibirien nach Australien, durch die Wüste Gobi, China, Laos und Thailand. Drei Jahre war sie unterwegs. Überlebte Sandstürme, übergriffige Männer und das Denguefieber. All das machte Marquis bekannt. Sie gehört zur offiziellen Abenteurer-Gilde von «National Geographic». Ihre Erlebnisse gibt sie in Büchern und Vorträgen weiter. Ihr achtes Werk (auf Französisch): «À dos d'oiseaux». Am 26. November spricht sie in Morges VD. Marquis lebt zurückgezogen in den Walliser Alpen. Mehr Informationen: www.sarahmarquis.com
Aufgewachsen ist Sarah Marquis im jurassischen Dorf Montsevelier. Schon mit 17 ritt sie allein auf einem Pferd durch die Türkei. Später machte sie nur noch zu Fuss Expeditionen. Unter anderem von Sibirien nach Australien, durch die Wüste Gobi, China, Laos und Thailand. Drei Jahre war sie unterwegs. Überlebte Sandstürme, übergriffige Männer und das Denguefieber. All das machte Marquis bekannt. Sie gehört zur offiziellen Abenteurer-Gilde von «National Geographic». Ihre Erlebnisse gibt sie in Büchern und Vorträgen weiter. Ihr achtes Werk (auf Französisch): «À dos d'oiseaux». Am 26. November spricht sie in Morges VD. Marquis lebt zurückgezogen in den Walliser Alpen. Mehr Informationen: www.sarahmarquis.com
Sondern?
Angst zeigt uns etwas auf. Sie hat mich oft gerettet. In China sass ich tagelang in einer Schlucht fest. Gleich neben meinem Zelt schoss eine Klippe in die Höhe, direkt vor mir war ein Fluss, der jederzeit ansteigen konnte. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Mitten in der Nacht verschob ich mein Zelt um dreihundert Meter. Kurze Zeit später zog ein Sturm auf, und ein riesiger Felsbrocken fiel dorthin, wo vorher mein Camp war.
Was lernten Sie daraus?
Wenn dir etwas Angst macht, dann renn. Hinterfrage es nicht. Höre auf deinen Bauch.
Angst kann aber auch lähmen.
Manchmal haben wir Angst vor Dingen, die wir nicht kennen.
Wie gehen Sie damit um?
Wissen vertreibt Angst. Bevor ich eine Expedition beginne, lese ich viel über die Bedingungen vor Ort, gehe hin und spreche mit den Menschen. Von australischen Fischern und Aborigines weiss ich zum Beispiel, dass Krokodile Kaltblüter sind, viel Sonne brauchen, um Energie zu tanken. Ich meide deshalb um die Mittagszeit Flüsse. Wenn ich nach der Recherche loslaufe, lege ich all diese Informationen in meinem Hinterkopf ab und verlasse mich auf meinen Instinkt.
Es heisst, Sie zögen ohne Kompass los.
Mein Instinkt zeigt mir den Weg. Den spüre ich aber nur, wenn ich nicht abgelenkt bin.
Reisen Sie deshalb immer allein?
Wenn man zu zweit ist, wägt man sich in falscher Sicherheit. Allein durch die Tatsache, dass da noch jemand ist. Man hört weniger in sich hinein. Ich muss allein sein.
Fühlen Sie sich manchmal einsam?
Einsam nicht. Klar, es gibt Momente, in denen man gerne seine Liebsten um sich haben möchte. Aber die vergehen.
Ist es möglich, mit dem Leben, das Sie führen, eine Liebesbeziehung zu führen?
Gute Frage! Es ist möglich, aber schwierig. Liebe und Freiheit gehören zusammen. Man muss ehrlich kommunizieren und den anderen gehen lassen können. Ich habe wenige Männer getroffen, die das können. Die mich verstehen.
Loslassen ist schwierig, wie schaffen Sie es?
Beim Gehen durchlaufe ich Phasen, das hilft. Auf langen Expeditionen dauert es fast sechs Monate, bis ich mich mit mir selber und dem, was ich tue, wohlfühle. Bis dahin denke ich über alles Mögliche nach, mein warmes Bett zu Hause, meine Freunde, deren Stimmen mich begleiten, oder ich jammere innerlich, weil mein Körper schmerzt. Auf einmal ändert sich das. Ich werde eins mit der Natur, lebe im Moment – bin nur noch damit beschäftigt, Nahrung und Schutz zu organisieren.
Wie wurden Sie eigentlich, was sie sind?
Ich bin als Entdeckerin geboren. Als junges Mädchen machte ich lange Spaziergänge, blieb länger weg von zu Hause. Einmal hatte ich genug von einer Familienfeier, schlich mich zusammen mit meinem Hund in eine Höhle, verbrachte dort die Nacht. Meine Familie suchte uns überall. Das war mein erstes richtiges Abenteuer.
Sie sehen immer wieder neue Orte. Inwiefern hat Sie der Ort Ihrer Kindheit geprägt?
Ich und mein Bruder wuchsen auf dem Land im Jura auf, umgeben von Hühnern, Enten und Schafen. Ich war ständig im Wald unterwegs, kletterte auf Bäume, unsere Ferien verbrachten wir mit Fischen und Campen. Doch das Dorf war sehr abgelegen, eine Sackgasse. Das prägte mich. Ich hatte den Drang, mehr von der Welt zu sehen.
Gab es in Ihrer Jugend Vorbilder?
Ella Maillart war mein weibliches Vorbild. Eine Westschweizer Entdeckerin, Schriftstellerin und Olympionikin im Segeln. Sie reiste einmal von Peking nach Indien durch die zweitgrösste Sandwüste der Erde, die Taklamakan-Wüste. Kaum jemand kennt Ella Maillart heute! Weil sie eine Frau ist. Bei meiner Australien-Expedition glaubte mir auch keiner, dass ich es schaffen würde. Deshalb sprach ich schon an so vielen Schulen über meine Arbeit, schreibe Bücher, halte öffentliche Vorträge. Es bringt etwas. Immer mehr Frauen reisen allein, warten nicht mehr auf den Traummann, mit dem sie die Welt erkunden können.
Hatten Sie als Frau auf Ihren Expeditionen je Probleme?
Klar, schon oft. In der Mongolei zum Beispiel kamen jede Nacht Reiter vorbei, sie waren betrunken, wollten mir Angst machen und mich mitnehmen.
Was taten Sie in jener Situation?
Einmal riss ich meine Hände in die Luft, rannte auf sie los und schrie wie eine sehr wütende Verrückte. Sie verstanden, dass ich mich nicht einschüchtern liess. Für Frauen ist es vielerorts gefährlich. Eine alleinreisende Frau in China gilt als Prostituierte, mit der man alles machen kann. Deshalb mache ich mich oft unsichtbar.
Wie?
Ich versuche, nicht mit Menschen in Kontakt zu kommen. Wenn ich Feuer mache, dann in einem kleinen Erdloch, damit es niemand sieht. Mein Essen verschlinge ich hastig, um schnell wegzukommen. Wenn immer möglich laufe ich auf hartem Boden, um keine Spuren zu hinterlassen. Und ich trage weite Männerkleider, verstecke meine Haare unter einem grossen Hut, trage eine grosse Sonnenbrille, rede kaum.
Kämpfen Sie manchmal damit, dass Sie nicht dem Bild einer typischen Frau entsprechen?
Jeden Tag. Die Gesellschaft erinnert mich ständig daran. Jeder, der nicht reinpasst, wird gleich in eine Box gesteckt, so sind die Menschen. Das stört mich aber nicht mehr. Als junge Frau machte ich mir mehr Gedanken. Heute weiss ich, wer ich bin.
Was sind die Reaktionen?
Früher fragte man mich, wo mein Ehemann geblieben sei. Ob ich keine Kinder wolle und warum nicht. Jetzt, mit 49, hat sich das Thema erledigt.
Sie sind oft lange weg, blicken mit Distanz auf die Schweiz und auf unsere Gesellschaft. Was sehen Sie?
Unsere Gesellschaft ist konservativ, aber politisch-korrekt. Alles läuft so, wie es sollte. Die Schweiz lebt in einer Blase. Viele wertschätzen nicht, wie privilegiert wir sind. Wir leben in Sicherheit. Ich war an vielen Orten, wo der einfache Gang von A nach B lebensgefährlich ist.
Von all den Winkeln der Erde, die Sie gesehen haben: Wo wollen Sie dereinst sterben?
Im australischen Outback. Dort gehöre ich hin. Das hat mit einem Gefühl zu tun, ich kann es nicht erklären. Wenn ich in die Schweiz komme, sehe ich unsere Bäume und fühle nichts. Wenn ich Eukalyptusbäume in Australien sehe, ist es wie Liebe.