Graubünden testet 45 Prozent der mobilen Bevölkerung. In Baselland sind es 20, in Zug 12 Prozent. Und jetzt steigen auch die ganz grossen Kantone ein.
In Zürich haben sich bereits 40 Heime, 70 Schulen mit 23'000 Schülern und 1100 Firmen mit 43'000 Angestellten für repetitive Massentests angemeldet. Im Aargau sind es 250 Betriebe mit 30'000 Mitarbeitern. Der Kanton Bern testet nach den Frühlingsferien sämtliche Schulen mit 160'000 Schülern. Schon diese Woche startete die Bundesverwaltung mit ihren 30'000 Mitarbeitern.
Das ist gut, denn testen heisst öffnen. Eigentlich. Doch jetzt läuft die Testoffensive Gefahr, das Gegenteil zu bewirken. Sie treibt nämlich die Fallzahlen, die Positivitätsrate und den R-Wert nach oben. Und zwar nicht nur, weil mehr Fälle gefunden werden, wenn mehr getestet wird – sondern auch, weil das BAG nur die positiven Resultate der Massentests zählt und die negativen aussen vor lässt.
Das Problem dabei: Solche Werte werden nicht nur täglich frisch der Öffentlichkeit präsentiert. Sie beeinflussen auch den Bundesrat bei seiner Beurteilung, ob Lockerungen möglich oder Verschärfungen nötig sind.
Verzerrte Werte
«Weil nur die positiven Resultate gemeldet werden, führt das zu verzerrten Werten», bestätigt Martin Bühler (44), Leiter des Bündner Corona-Krisenstabs. So würden Kantone, die viel testen, gleich doppelt bestraft: «Der R-Wert ist zu hoch, weil durch das steigende Testvolumen die asymptomatisch positiven Fälle zunehmen. Die Positivitätsrate wiederum berücksichtigt die vielen asymptomatisch negativ Getesteten aus den Schulen und Betrieben nicht. Das verfälscht das Bild.»
Raphael Ben Nescher (34), Chef des Berner Covid-Sonderstabs, stösst ins gleiche Horn: «Fallzahlen, R-Wert und Positivitätsrate verlieren durch das Testen an Gehalt.» Er fordert ein Umdenken: «Es geht doch darum, das Gesundheitswesen nicht zu belasten. Deshalb muss die Spitalbettenbelastung das zentrale Kriterium sein.»
Jetzt kommt auch Kritik aus den Reihen der Kantonsregierungen: Zwar bringe die Berücksichtigung der epidemiologischen Parameter keinen Automatismus mit sich, sagt Guido Graf (62), Gesundheitsdirektor des Kantons Luzern. «Tatsächlich ist es aber so, dass das ausschliessliche Melden der positiven Testresultate zu einem veränderten Bild der epidemiologischen Lage führt.»
Editorial zu den Massentests
R-Wert nicht mehr geeignet
Für die Nidwaldner Gesundheitsdirektorin Michèle Blöchliger (53) ist deshalb klar: «Die aktuellen Kriterien wie die Positivitätsrate oder der R-Wert sind nicht mehr geeignet, um über Lockerungen zu entscheiden.» Hier brauche es eine klare Ansage des Bundes, sagt Blöchliger. «Testen muss Lockerungen ermöglichen. Aber wenn wir die Kriterien nicht anpassen, wird Testen nicht der Wegbereiter für Lockerungen sein.»
Der Kanton Zug hat nun entschieden, anders zu rechnen als das BAG. «Wir zählen die negativen Resultate aus den Reihentests mit», sagt Rudolf Hauri (61), Zuger Kantonsarzt und Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte. Der Unterschied ist frappant. So notiert das BAG für Zug aktuell eine Positivitätsrate von 6,1 Prozent – die Zuger selbst kommen auf 1,7 Prozent. «Es macht Sinn, über diese Werte neu nachzudenken», sagt Hauri.
Tatsächlich habe der Bundesrat nun entschieden, künftig auf die Positivitätsrate als Richtwert zu verzichten, sagt Fosca Gattoni, stellvertretende Leiterin der Sektion Heilmittelrecht beim BAG. Zu den anderen Werten äussert sich Gattoni nicht. Sie hält aber fest: «Das vermehrte Testen ist ein Instrument, um Öffnungsschritte zu begleiten. Es dient dazu, das Risiko zu vermindern, dass bei Lockerungen der Massnahmen die Fallzahlen zu stark ansteigen.»
An diesen Lockerungen sind besonders die Bündner interessiert. Denn im Covid-Gesetz steht: Der Bundesrat soll Kantonen, die viel testen, Erleichterungen gewähren. Diese Woche hat die Bündner Regierung beim Bund nachgefragt, wie es darum nun stehe. Eine Antwort hat sie noch nicht gekriegt. Für Martin Bühler aber ist klar: «Wenn die epidemiologischen Umstände stimmen, müssen Testkantone schneller öffnen können.»
Selbsttests sind ausverkauft
Seit letztem Mittwoch kommen auch die Selbsttests aus den Apotheken zum Zug. Die Nachfrage ist gross: Pharmariese Roche, der in der Schweiz bislang als Einziger solche Tests verkaufen darf, war am Freitag bereits ausgeschossen. Er kann erst ab Montag wieder liefern.
Doch auch für die Selbsttests gilt: Nur positive Fälle werden erfasst – was die Richtwerte weiter verfälscht. Das ist aber nicht das einzige Problem: «Selbsttests sind tausendmal weniger sensibel als PCR-Tests», sagt Gilbert Greub (53), Direktor des Instituts für Mikrobiologie des Universitätsklinikums Lausanne. Er ist Mitverfasser einer Studie der Schweizerischen Gesellschaft für Mikrobiologie, die verschiedene Testtypen verglichen hat – mit einem miserablen Ergebnis für die Selbsttests: Sie sollen asymptomatisch Infizierte aufspüren, entdecken aber nur 23 bis 41 Prozent von ihnen. Greubs Fazit: «Selbsttests sind für die Masse nicht geeignet.»