Mit über 10'500 Neuinfektionen verzeichnete die Schweiz am letzten Montag einen traurigen Pandemie-Rekord. Trotzdem entschied sich der Bundesrat am Freitag gegen Homeoffice-Pflicht und Massentests an allen Schulen. Die grossflächige Einführung der 2G-Regel stand nicht einmal zur Debatte.
Das liegt auch am Widerstand aus den Kantonen und aus Wirtschaftskreisen, die am liebsten gar keine Einschränkungen wollen. Schliesslich, so der Schweizerische Gewerbeverband, brauche es keine Massnahmen, «solange die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitswesens nicht akut ist».
Doch was heisst akut? Die Schweiz meldet eine wöchentliche Zunahme der Neuinfektionen um 50 Prozent, 40 Prozent mehr Hospitalisationen und 20 Prozent mehr Belegung auf Intensivstationen. Die sind schon jetzt überlastet: Im ganzen Kanton Zürich gibt es keinen freien Intensivplatz mehr. In Bern wurde «Code Red» ausgerufen, der Ausnahmezustand, und Genf ist im Krisenmodus. Sogenannte Wahleingriffe werden verschoben, Patienten notfallmässig verlegt.
«Ohne Impfung geht es nicht.»
«Die Hälfte unserer Intensivbetten ist mit Covid-Patienten belegt», sagt Christian Frey, stellvertretender Leiter der Intensivstation in der Hirslanden Klinik Aarau. «Sie sind alle ungeimpft.» Damit habe er Mühe, sagt Frey: «Weil wir ihretwegen andere Patienten zurückstellen müssen.» Für Frey ist klar: «Ohne Impfung geht es nicht.»
Die steigende Zahl von Covid-Patienten macht dem erfahrenen Intensivmediziner besonders deshalb Sorge, weil diese sehr lang betreut werden müssen. «Sie bleiben im Durchschnitt einen Monat lang auf der Intensivstation.» Je stärker die Fallzahlen steigen, desto grösser wird das Problem.
Am Ende der Kaskade steht die Triage auf Intensivstationen, vor der Taskforce-Präsidentin Tanja Stadler schon im November warnte. Genau zu dieser Extremlage kam es diese Woche in der Hirslanden Klinik Aarau: «Wir haben bereits Patienten mit Begleiterkrankungen triagiert», sagt Intensivmediziner Frey. So wurde ein Krebskranker mit seinem Einverständnis nicht in die Intensivstation aufgenommen, sondern auf einer normalen Station nicht invasiv beatmet. «Steigen die Fallzahlen weiter, werden auch die Triagen zunehmen», sagt Frey.
Massive Belastung für alle Beteiligten
Triage bedeutet aussortieren: Wenn im Kriegs- oder Katastrophenfall die medizinischen Ressourcen nicht mehr für alle Patienten ausreichen, müssen die Mediziner eine Auswahl treffen. In der Schweiz können sie sich an Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) orientieren. Die halten fest: Sind alle Kapazitäten ausgeschöpft, erhalten bei der Aufnahme in Intensivstation diejenigen Patienten Vorrang, die am meisten von einer Intensivbehandlung profitieren. «Bei einem sogenannten Rationierungsentscheid, also einer harten Triage, werden diejenigen Patienten intensivmedizinisch betreut, deren Chance zu überleben am grössten ist», erklärt Miodrag Filipovic, Leiter Intensivmedizin am Kantonsspital St. Gallen und SGI-Vorstandsmitglied.
Die Triage ist eine massive Belastung für alle Beteiligten – auch für Pflegekräfte: «Sie müssen die triagierten Patienten und ihre Angehörigen betreuen», sagt Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Pflegefachverbands. Dabei stehen sie ohnehin seit bald zwei Jahren unter Dauerdruck. Die Folgen sind Kündigungen und Pensumsreduktionen, was seit Pandemiebeginn zu einem Verlust der Personalressourcen auf Intensivstationen von rund 15 Prozent geführt hat – dazu tragen auch Covid-Erkrankungen der Pflegekräfte bei, die sich an vorderster Front exponieren.
Fachkräfte fehlen
«Dieser Personalmangel ist der Grund, warum die Situation nun so akut ist», sagt Ribi. Zwar gab es in der letzten grossen Corona-Welle vor einem Jahr deutlich mehr Hospitalisationen. «Aber wegen fehlender Fachkräfte gibt es jetzt weniger Intensivplätze.» Tatsächlich verfügte die Schweiz im letzten Herbst über 1100 solcher Betten – heute sind es 860. Die prozentuale Belegung ist mittlerweile höher als in der zweiten Welle.
Und sie dürfte noch weiter steigen – nicht nur in den Zentren, sondern auch in Wintersport-Destinationen, wo gerade die Saison beginnt. Skiunfälle sind programmiert. Während einer normalen Wintersaison seien die Intensivplätze durchschnittlich zu 80 bis 100 Prozent ausgelastet, sagt Thomas Fehr, Chefarzt Innere Medizin und ärztlicher Direktor des Kantonsspitals Graubünden in Chur. Dazu kommen jetzt die Corona-Patienten, die allein im November durchschnittlich 40 bis 60 Prozent der Churer Intensivplätze belegten. «Es ist also klar, dass es an Spitzentagen zu Überbelegungssituationen kommen kann», sagt Fehr.
Für Olivia Keiser, Epidemiologin an der Uni Genf, steht deshalb fest: «Die aktuellen Massnahmen reichen nicht.» Die Situation in den Spitälern sei mittlerweile die einzige Zielgrösse der Politik. «Jetzt sind diese stark überlastet, und trotzdem passiert viel zu wenig!»
Zu spät und zu wenig
Dabei sei aus epidemiologischer Sicht klar, was nützt: «Vor allem Massentests, CO2-Messgeräte und Filter, aber auch gute FFP2-Masken, das Verbot grosser Veranstaltungen, vorübergehende Schliessungen und Kompensationen von Hochrisiko-Orten.» Keiser betont zudem: «Wir müssen so rasch wie möglich boostern und die Kinderimpfung einführen.» Das Beispiel Österreich zeige, dass eine grossflächige Einführung von 2G ebenfalls einen starken Effekt hätte.
«Zu spät und zu wenige», sagt auch SP-Nationalrat und Arzt Angelo Barrile zu den aktuellen Massnahmen. Dass jetzt in der Schweiz Triagen durchgeführt werden, bestürzt den Gesundheitspolitiker. Nach einer Krebserkrankung kann Barrile trotz Impfung und Booster keinen Immunschutz aufbauen. «Es könnte also auch mir passieren, dass ich im Notfall keinen Intensivplatz erhalte.» Die Politik müsse jetzt aufwachen: «Das Hin und Her zwischen Bund und Kantonen hat Folgen. Offenbar ist noch nicht allen Beteiligten klar, dass es um Leben und Tod geht.» Für Barrile steht fest: «Es müssen schärfere Massnahmen kommen.»
Bis es so weit ist, spitzt sich die Situation in den Spitälern weiter zu – und weitere Triagen werden folgen. Auch dabei wird es um Ungeimpfte gehen. Sie machen gemäss SGI-Vorstandsmitglied Filipovic 90 Prozent der behandelten Covid-Patienten auf den Intensivstationen aus. Doch der Impfstatus dürfe bei der Triage-Entscheidung keine Rolle spielen, erklärt Felix Uhlmann, Staatsrechtler an der Uni Zürich. «Das wäre diskriminierend. Entscheidend ist allein die kurzfristige Überlebenschance des Patienten.»
Realitätsfremde Corona-Leugner
Könnten triagierte Patienten oder ihre Angehörigen gegen die Ärzte klagen? Uhlmann: «Das ist bei falschen Triage-Entscheiden nicht ausgeschlossen, aber praktisch wohl schwierig. Komplexe Prognosen müssen unter hohem Zeitdruck gefällt werden. Ich gehe davon aus, dass nur klare Fehlentscheide eine zivilrechtliche oder strafrechtliche Verantwortlichkeit auslösen.»
Dass die Schweiz mittlerweile über solche Fragen diskutieren muss, ist bedenklich. Umso verstörender sind in dieser prekären Lage Stimmen, die eine Überlastung des Gesundheitswesens noch immer als «nicht akut» abtun.