Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat diese Woche neue Zahlen zu assistierten Suiziden publiziert. Der «Tages-Anzeiger» titelte daraufhin: «Die Zahl der begleiteten Suizide steigt stetig an. Noch nie sind in der Schweiz so viele Personen mithilfe einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben geschieden wie 2015.»
Die Sterbehilfe-Fälle des Jahres 2016 sind in der Statistik des Bundes noch nicht erfasst. SonntagsBlick hat deshalb die aktuellsten Zahlen der Sterbehilfeorganisation Exit unter die Lupe genommen. Der überraschende Befund: Nach vielen Jahren starken Wachstums ist die Anzahl Sterbehilfe-Fälle 2016 erstmals zurückgegangen.
2010 begleiteten die Exit-Organisationen in der Deutschschweiz und der Romandie 348 Personen in den Tod. In den folgenden Jahren erhöhte sich diese Zahl Jahr für Jahr um 20 bis 30 Prozent. 2015 zählte Exit bereits 995 Freitodbegleitungen. Doch dann die grosse Überraschung: 2016 ging die Zahl nicht weiter nach oben, sondern nahm ab. Im vergangenen Jahr schieden nur noch 938 Menschen mit Exit aus dem Leben (siehe Grafik).
Exit-Geschäftsführer Bernhard Sutter (49) will noch nicht von einer Trendwende sprechen. Er hat jedoch eine mögliche Erklärung für den Rückgang: «Vielleicht zeigt der Ausbau der Palliativmedizin Wirkung, der in den letzten Jahren vorangetrieben wurde.»
Unter Palliativmedizin versteht man alle Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen. Gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat sich die Anzahl der Betten auf Palliativstationen im Spital in den letzten Jahren praktisch verdoppelt. «Heute verfügen fast alle Kantone über eine Strategie oder ein Konzept zu Palliative Care», so das BAG.
Palliativpflege ist stärker anerkannt
Roland Kunz (62) ist Chefarzt am Zürcher Stadtspital Waid und ein erfahrener Palliativmediziner. Er glaubt ebenfalls, dass der Rückgang bei den Sterbehilfe-Fällen mit der Förderung der Palliativmedizin zusammenhängen könnte. Allerdings nicht in erster Linie mit dem bettenmässigen Ausbau, sondern vielmehr mit der verstärkten und weiter wachsenden Wahrnehmung, Integration und Anerkennung der Palliativpflege: «In der Medizin und in der ganzen Gesundheitsversorgung findet ein langsames Umdenken statt. Der Imperativ ‹Kampf gegen die Krankheit bis zum bitteren Ende› weicht einer Haltung, welche die individuellen Ziele des Patienten ins Zentrum stellt.»
Der Bund hat dieses Umdenken aktiv gefördert. In den Jahren 2010 bis 2015 wurde die Nationale Strategie Palliative Care umgesetzt. Mittlerweile gibt es in vielen Spitälern palliativmedizinische Konsiliardienste. Die Palliativmedizin wurde in die Ausbildung der Medizinstudenten integriert. Und seit 2016 ist die Palliativmedizin als Fachdisziplin anerkannt.
Eine positive Entwicklung, wie Kunz sagt. «Damit konnte erreicht werden, dass Menschen mit unheilbaren Erkrankungen heute besser betreut, behandelt und beraten werden. Die Angst vor unbehandelten Schmerzen oder dem Erstickenmüssen hat dadurch abgenommen.»
Die Offensive der Palliativmedizin ist aber längst nicht abgeschlossen. Künftig ist auch eine Höhere Fachprüfung Palliative Care für Gesundheitsberufe vorgesehen. Die Details dazu werden zurzeit ausgearbeitet. Zudem hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) vorgestern ihre überarbeiteten Richtlinien für die Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende vorgestellt (siehe Box). Kunz: «Ich denke, wir stehen hier am Anfang einer sehr wichtigen Veränderung, die sich wahrscheinlich noch stärker auswirken wird mit den neuen Generationen von Ärzten.»
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat am Freitag neue Richtlinien für die Betreuung von Patienten am Lebensende vorgestellt. Die wichtigste Änderung ist der Geltungsbereich. Bisher beinhalten die Richtlinien nur die Betreuung von Menschen, bei denen der Sterbeprozess bereits eingesetzt hat. Neu bezieht sich das Dokument auch auf Patienten, die an einer tödlich verlaufenden Krankheit leiden, ohne dass sie unmittelbar vor dem Tod stehen. Die Ärzte sollen mit den Patienten bereits im frühen Krankheitsstadium festlegen, welche Massnahmen und Behandlungen im Verlaufe der Krankheit in Frage kommen. Auch das Thema Suizidhilfe wird vertieft. Zwar sollen die Ärzte auch in Zukunft entscheiden dürfen, ob sie Suizidhilfe leisten wollen oder nicht. Die Voraussetzungen, die zu prüfen sind, wurden jedoch erweitert. Die Richtlinien gehen nun in die Vernehmlassung.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat am Freitag neue Richtlinien für die Betreuung von Patienten am Lebensende vorgestellt. Die wichtigste Änderung ist der Geltungsbereich. Bisher beinhalten die Richtlinien nur die Betreuung von Menschen, bei denen der Sterbeprozess bereits eingesetzt hat. Neu bezieht sich das Dokument auch auf Patienten, die an einer tödlich verlaufenden Krankheit leiden, ohne dass sie unmittelbar vor dem Tod stehen. Die Ärzte sollen mit den Patienten bereits im frühen Krankheitsstadium festlegen, welche Massnahmen und Behandlungen im Verlaufe der Krankheit in Frage kommen. Auch das Thema Suizidhilfe wird vertieft. Zwar sollen die Ärzte auch in Zukunft entscheiden dürfen, ob sie Suizidhilfe leisten wollen oder nicht. Die Voraussetzungen, die zu prüfen sind, wurden jedoch erweitert. Die Richtlinien gehen nun in die Vernehmlassung.
Kommentar von Aline Wüst, Reporterin
Seinen Todestag kennt niemand. Niemand ausser jenen, die sich für den assistierten Suizid entscheiden.
Diese Art des Sterbens kann eine Erleichterung für Menschen bedeuten, die unheilbar krank sind, den Lebensmut verloren haben oder sich vor dem Sterben fürchten.
Über ihren Entscheid zu urteilen, steht uns nicht zu.
Und doch betrifft die Frage, wie lange man das Leben aushalten muss, nicht nur den, der es nicht mehr aushält. Rund 40 Prozent der Angehörigen von Menschen, die Sterbehilfe in Anspruch genommen haben, leiden unter psychischen Problemen. Dabei ist der assistierte Suizid eigentlich ein Tod, auf den sich alle vorbereiten können. Bei dem man Zeit hat, Abschied zu nehmen.
Doch wenn es so weit ist, fühlt es sich für viele Angehörige offenbar doch ganz anders an.
Nun hat die Zahl assistierter Suizide abgenommen – erstmals seit Jahren. Erfreulich daran ist auch, dass ein möglicher Grund die Verbesserung der Palliativmedizin sein könnte, also ein früher stiefmütterlich behandelter Zweig der Medizin, der das Leben nicht um jeden Preis verlängern, sondern zu einem schmerzlosen Tod beitragen will.
Palliativmedizin statt Suizid – das ist für Angehörige oft der weniger schmerzhafte Weg.
Dass Schweizer dank besserer Palliativmedizin ruhiger sterben können – und zwar dann, wenn ihr Moment gekommen ist –, verdanken wir paradoxerweise genau denen, die für das Sterben einen Termin festlegen: Exit. Die Suizidhelfer haben die Diskussion um das gute Sterben angestossen. Auf eine radikale Art zwar. Aber wirkungsvoll.
Kommentar von Aline Wüst, Reporterin
Seinen Todestag kennt niemand. Niemand ausser jenen, die sich für den assistierten Suizid entscheiden.
Diese Art des Sterbens kann eine Erleichterung für Menschen bedeuten, die unheilbar krank sind, den Lebensmut verloren haben oder sich vor dem Sterben fürchten.
Über ihren Entscheid zu urteilen, steht uns nicht zu.
Und doch betrifft die Frage, wie lange man das Leben aushalten muss, nicht nur den, der es nicht mehr aushält. Rund 40 Prozent der Angehörigen von Menschen, die Sterbehilfe in Anspruch genommen haben, leiden unter psychischen Problemen. Dabei ist der assistierte Suizid eigentlich ein Tod, auf den sich alle vorbereiten können. Bei dem man Zeit hat, Abschied zu nehmen.
Doch wenn es so weit ist, fühlt es sich für viele Angehörige offenbar doch ganz anders an.
Nun hat die Zahl assistierter Suizide abgenommen – erstmals seit Jahren. Erfreulich daran ist auch, dass ein möglicher Grund die Verbesserung der Palliativmedizin sein könnte, also ein früher stiefmütterlich behandelter Zweig der Medizin, der das Leben nicht um jeden Preis verlängern, sondern zu einem schmerzlosen Tod beitragen will.
Palliativmedizin statt Suizid – das ist für Angehörige oft der weniger schmerzhafte Weg.
Dass Schweizer dank besserer Palliativmedizin ruhiger sterben können – und zwar dann, wenn ihr Moment gekommen ist –, verdanken wir paradoxerweise genau denen, die für das Sterben einen Termin festlegen: Exit. Die Suizidhelfer haben die Diskussion um das gute Sterben angestossen. Auf eine radikale Art zwar. Aber wirkungsvoll.
Übrigens: Die Sterbehilfeorganisation Exit würde sich freuen, wenn sie aufgrund der verbesserten Palliativmedizin in Zukunft weniger Freitodbegleitungen durchführen müsste. Geschäftsführer Sutter: «Das wäre absolut in unserem Sinne!»