Der Anteil positiver Corona-Tests schiesst schweizweit in die Höhe. Die Covid-19-Taskforce warnt, dass Mitte November sämtliche Intensivpflegebetten besetzt sein könnten – und fordert strengere Massnahmen.
Doch an derlei Schreckensszenarien mögen längst nicht mehr alle glauben: Auf Social-Media-Plattformen reden viele die Corona-Gefahr klein oder negieren sie sogar. Sie finden die Schutzmassnahmen masslos übertrieben und halten sie für reine Staatsgängelei.
Rückenwind geben den Corona-Skeptikern Wirtschaftsvertreter wie Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler (62) oder Digitec-Gründer Marcel Dobler (40). Die finden schon eine Ausweitung der Maskenpflicht unangemessen.
Ist das alles nötig?
Am Freitag feierte zudem der Film «Unerhört!» des ehemaligen SRF-Moderators Reto Brennwald (57) Premiere. Dieser zweifelt ebenfalls an der Verhältnismässigkeit staatlicher Corona-Massnahmen.
Die Zweifler stellen stets dieselben Fragen: Ist das alles nötig? Ist das Virus wirklich derart gefährlich?
Ihr Lieblingsargument: 2020 seien in der Schweiz nicht mehr Menschen gestorben als in anderen Jahren.
Das stimmt. Die offizielle Statistik zeigt, dass die Schweiz im Corona-Jahr bisher keine Übersterblichkeit zu verzeichnen hat.
Unfassbare Zahlen aus Bergamo
Andere Zahlen beweisen aber auch: Es wäre komplett falsch, daraus zu schliessen, dass Corona nicht gefährlicher ist als eine normale Grippe. Denn einzelne Regionen und ganze Nationen verzeichnen sehr wohl eine massive Übersterblichkeit.
In Europa und den USA werden laufend die wöchentlichen Todesfälle publiziert, unabhängig von der Todesursache. SonntagsBlick hat die Zahlen von 2015 bis 2020 ausgewertet. Für jedes Jahr wurden die Todesfälle der Kalenderwochen 1 bis 35 zusammengezählt, also von Januar bis Ende August. Aktuellere Zahlen sind für das laufende Jahr in vielen Länder noch nicht verfügbar. Für 2015 bis 2019 wurde dann der Durchschnittswert ermittelt – und mit den Todesfällen im Jahr 2020 verglichen. In normalen Jahren weicht die Zahl der Todesfälle ein bis drei Prozent vom Fünf-Jahres-Durchschnitt ab.
In Europa und den USA werden laufend die wöchentlichen Todesfälle publiziert, unabhängig von der Todesursache. SonntagsBlick hat die Zahlen von 2015 bis 2020 ausgewertet. Für jedes Jahr wurden die Todesfälle der Kalenderwochen 1 bis 35 zusammengezählt, also von Januar bis Ende August. Aktuellere Zahlen sind für das laufende Jahr in vielen Länder noch nicht verfügbar. Für 2015 bis 2019 wurde dann der Durchschnittswert ermittelt – und mit den Todesfällen im Jahr 2020 verglichen. In normalen Jahren weicht die Zahl der Todesfälle ein bis drei Prozent vom Fünf-Jahres-Durchschnitt ab.
Geradezu unfassbar sind die Zahlen der italienischen Provinz Bergamo mit ihrem gleichnamigen Hauptort: Im ersten Halbjahr 2020 – neuere Daten gibt es für Italien nicht – verzeichnete die Region mit 1,1 Millionen Einwohnern eine Übersterblichkeit von 117 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet das: 2016 bis 2019 starben in Bergamo von Kalenderwoche 1 bis 26 durchschnittlich 5200 Menschen. 2020 verzeichnete die Region im gleichen Zeitraum rund 11'300 Todesfälle – also mehr als doppelt so viele wie zu normalen Zeiten.
Angesichts dieser Zahlen erstaunt es nicht, dass Ende März Militärlastwagen nötig waren, um Verstorbene zur Einäscherung in die Krematorien der Nachbarregionen zu bringen.
70 Prozent mehr in New York
Ein anderes Bild, das im Frühjahr um die Welt ging, lässt sich ebenfalls durch Betrachtung der Übersterblichkeitsziffern verstehen: Das Spitalschiff der US-Marine, das im März in New York einlief, um die mit Covid-19-Patienten überlasteten Spitäler zu entlasten. Die Behörden der Stadt registrierten von Januar bis Ende August total 63'000 Todesfälle. Im gleichen Zeitraum waren es früher durchschnittlich 36'500 Tote – die Übersterblichkeit betrug also mehr als 70 Prozent.
Brutal auch die Zahlen aus Madrid: Dort verstarben in den vergangenen Monaten fast 50 Prozent mehr Menschen als im Schnitt der letzten Jahre.
Auch im Nationen-Ranking führt Spanien die traurige Liste an. Übersterblichkeit: 17 Prozent. Dahinter rangieren die USA (16 Prozent), Grossbritannien (15 Prozent) und Italien (12 Prozent).
«Das Wichtigste war der Zeitpunkt»
Doch wie lassen sich die riesigen Unterschiede bei der Übersterblichkeit zwischen einzelnen Regionen und Ländern erklären? Die meisten Regierungen ergriffen schliesslich sehr ähnliche Massnahmen.
Für den Epidemiologen Marcel Zwahlen von der Universität Bern steht fest: «Das Wichtigste war der Zeitpunkt, an dem die Massnahmen ergriffen wurden.» Im Norden Italien habe es schlicht zu lange gedauert, bis das Virus entdeckt worden sei. In Spanien, den USA und Grossbritannien wiederum hätten die Regierungen erst reagiert, als die Spitäler schon voll waren.
«Hätte die Schweiz die Massnahmen im Frühjahr eine Woche später getroffen, hätte es bis im Mai wohl zusätzliche 6000 Corona- Todesfälle gegeben», so Zwahlen. Dies entspräche bei jährlich etwa 68'000 Todesfällen einer Übersterblichkeit von gegen zehn Prozent für das ganze Jahr.
«Auch die Schweiz ist nicht davor gefeit»
Der Epidemiologe weiter: «Grosse Probleme hatten auch Länder, in denen das Gesundheitssystem schon vor Corona am Anschlag war.» Zentral sei des Weiteren der Schutz des Gesundheitspersonals: «Während der ersten Welle hat sich dieses in einigen Ländern oft noch selbst angesteckt, unter anderem weil es an Schutzausrüstung fehlte – und teilweise trugen sie das Virus dann auch noch in die Alters- und Pflegeheime.»
In dieser Hinsicht seien die meisten Nationen nun sicherlich besser aufgestellt. Und bei der Behandlung von Covid-19 habe man dazugelernt. «Es ist aber dennoch nicht auszuschliessen, dass wir in einigen Ländern und Regionen wieder eine massive Übersterblichkeit haben werden – auch die Schweiz ist davor nicht gefeit.»
Entscheidend sei es daher, auch bei der zweiten Welle die richtigen Massnahmen zur Senkung der Ansteckungszahlen zu ergreifen – und zwar, bevor es zu spät ist.
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