Herrgottsakrament. Hilda ist schon wieder wütend. Es regt sie einfach zu sehr auf. Hat die Schweiz nichts gelernt? Im Zweiten Weltkrieg hatte das Land doch schaurig Glück. Sie habe das noch in den Knochen, mit Jahrgang 1938, sie kann sich erinnern an die verdunkelten Fenster und die Essensrationen und wie sie an den Grenzen die Menschen in den Tod zurückschickten. «Das darf nicht mehr passieren», sagt sie und schüttelt den Kopf. Und dann führen einige Politiker Wahlkampf auf dem Rücken der Flüchtlinge. «Wie die jammern wegen den paar Asylanten!» Hilda Wirth (77) jammert nicht. Sie gibt Flüchtlingen Obdach.
Sie hat ja Platz, dachte sie sich und nahm zwei Flüchtlinge auf
Wettert die Frau über die Schweizer Flüchtlingspolitik, kann sie sich richtig in Rage reden, hier, in ihrem Heimetli. Wo sie eigentlich ihren Frieden fand. Am «Högli» steht das Haus, vier Kilometer ausserhalb des Dörfchens Wolfhalden AR. Am Witzwanderweg. Der Blick auf den Bodensee ist fantastisch.
Es war Mitte August, als sie die zwei aus dem Asylheim Landegg in Gossau SG abholte: Sussana Goitom und Alexander Tekle aus Eritrea. 21 und 23 Jahre alt, verheiratet seit bald zwei Jahren. Im Frühling ging Hilda zur Gemeinde und sagte, sie wolle das jetzt machen: Flüchtlinge aufnehmen. «Ich habe ja Platz, wieso sollten sie nicht bei mir wohnen?»
Früher war ihr Haus immer voller Kinder. Acht Enkel hat sie und drei Urenkel. Aber die kommen halt nicht mehr so oft zu Besuch. Ihr Mann starb schon vor 14 Jahren. Furchtbar leer sei nun das Haus. «Es ist doch viel schöner voller Menschen», sagt sie.
Über 400 Jahre alt ist ihr Appenzellerhaus, mit braun gebeizten Balken und abgewetzten Schwellen, mit Kachelöfen und Holzschränken, mit Böden, die wanken, wenn man auf ihnen geht. In der Besenbeiz draussen im Garten bedient Hilda durstige Wanderer.
Im Lesezimmer mit den zwei rosa Sofas, wo im Bücherregal Solschenizyn und Churchill neben Gottfried Keller stehen, flimmern im Fernsehen schreckliche Nachrichten. In Österreich birgt die Polizei die Leichen von 71 Flüchtlingen aus einem Kühlwagen, abgestellt auf der Autobahn. Ein paar Tage später gehen die Bilder des ertrunkenen Buben Aylan Kurdi um die Welt. Sie lösen eine Welle der Solidarität aus.
Die Flüchtlinge Sussana und Alexander wohnen nun in der Zweizimmerwohnung im ersten Stock. Sie haben dort eine kleine Küche, eine Stube und ein Bett, dessen Deckenbezug mit dem Bild eines Golden-Retriever-Welpen bedruckt ist. Möglichst eigenständig sollen sie leben, selber kochen, selber sauber machen. Das möchte Hilda so. Sie lässt die beiden in Ruhe.
Noch gehen sie kaum aus dem Haus. Oft nur um einzukaufen oder für den Deutschunterricht im Nachbardorf Heiden. Die Nachbarn sehen sie fast nie. «Sie sollen erst mal ankommen, alles muss sich langsam ineinanderfügen», sagt Hilda. Sie hat schon was vor mit ihnen. «Vielleicht helfen sie mir bald ein wenig?» Es gibt allerhand zu tun ums Haus, in der Küche und in der Besenbeiz. Wie man den Abfall korrekt trennt, hat sie ihnen am ersten Tag gezeigt.
Es ist fast Mittag und die zwei sind noch immer nicht aufgetaucht. «Sie schlafen immer so lange», sagt Hilda, «das wird sich bald ändern.» Sie geht zur Treppe, die hinauf zur Wohnung der beiden führt, und drückt dreimal auf eine Klingel an der Wand. «Alexander, Sussana, come down!» – «Ja, Mama», antwortet Alexander oben. Er poltert die Treppe hinab, gibt ihr ein Küsschen auf die Wange. «Hello, Mama», sagt er. Und zupft an ihrer Bluse. Sie war verrutscht. Hilda strahlt. «Mama ist die Beste», sagt er und lacht ebenfalls. Mit ein paar Brocken Englisch und Deutsch, mit Hand und Fuss versuchen sie sich zu verstehen. Es geht meist. Und wenn nicht, lachen sie sich an. «You sleep?», fragt Hilda, «schlaft ihr noch?» – «Nein Mama, essen. Tayta.»
Alexander wurde mit 17 Jahren zwangsrekrutiert
Tayta ist das traditionelle Fladenbrot aus Eritrea, ihre Leibspeise. Alexander verschwindet nach oben, in die Küche. In den Regalen steht antikes Geschirr, auf dem Glastisch Plastikblumen. Sussana bestreicht Fladenbrote mit Shiro, einem Eintopf aus Kichererbsen und Bohnen. Dazu legt sie Salat und Tomaten. Sie richtet die Speisen direkt auf einem Tablett an.
Sussana und Alexander bekreuzigen sich, sie sind eritreisch-orthodoxe Christen. Er nimmt ein Stück Fladenbrot, reicht es Sussana. Sie bricht eine Hälfte ab. Der Mann gibt das erste Stück der Mahlzeit seiner Frau, so will es die Tradition. Sie essen mit blossen Händen.
Alexander war 17, als die Polizei ihn zu Hause in der eritreischen Hauptstadt Asmara abholte. Er wurde zwangsrekrutiert. Fünf Jahre lang war er Soldat, musste Wache schieben, den Verkehr kontrollieren, rund um die Uhr schuften – eine moderne Form der Sklaverei. Sein Sold betrug bloss einen Franken am Tag. Als er nach fünf Jahren ein erstes Mal frei bekam, floh er zu Fuss nach Äthiopien.
Das war im Oktober 2014. Er schlug sich in die sudanesische Hauptstadt Khartum durch. Dort traf er Sussana. Sie flohen über Libyen mit einem Boot nach Italien. Mehr als 500 Menschen waren an Bord, sie prügelten sich um die Plätze. «Der liebe Gott hat uns geholfen», sagt Alexander, die Hand an der Brust. «Niemand ist gestorben.»
Mit dem Zug fuhren sie von Italien in die Schweiz. Sie war von Anfang an ihr Ziel. Nur Gutes hätten Freunde berichtet. «Die Leute sind friedlich, sagt er. «Hier ist Friede, hier ist es gut», sagt sie.
Mehr als 50 Mal fuhr Hilda mit dem
Lastwagen in den Krieg
Einen Stock tiefer rührt Hilda in einem Topf voll Bratensauce und Koteletts. «Fein hast du gekocht, Hilda», sagt sie zu sich selbst und schöpft sich eines. Dann beginnt sie zu erzählen, von damals, von Kroatien. Davon, warum sie das eigentlich macht mit den Flüchtlingen.
Als in den Neunzigerjahren der Krieg in Ex-Jugoslawien wütete, habe sie es irgendwann nicht mehr ausgehalten. «Eine Stunde Flugzeit von uns schossen die sich die Köpfe weg. Alle haben geflucht, niemand machte was.» Schon wieder Krieg in Europa. Hat man nichts gelernt vom Zweiten Weltkrieg?
Sie fing an herumzutelefonieren im Appenzellerland. Im Nachbardorf fand sie eine Bosnierin, die schon mehrere Lastwagenzüge voller Hilfsgüter in die alte Heimat gefahren hatte. Hilda ging mit. «Wir hatten ja keine Ahnung, wir fuhren einfach runter», sagt sie und lacht. Ins kroatische Städtchen Zupanja direkt an der Grenze zu Bosnien ging die Fahrt. Mitten in den Krieg. Sirenengeheul. Artilleriebeschuss. 150 Meter neben dem Lastwagen explodierten Granaten.
Aus der einen Fahrt wurden fünfzig. Und zehn Jahre Engagement. Aus dem Nichts haben Hilda, ihr Mann und viele Freiwillige ein kleines Hilfswerk aufgebaut, das noch nach Kriegsende wirkte. «Wenn du im Krieg warst», sagt Hilda, «haut dich so schnell nichts mehr um.»
Und jetzt, in den Nachrichten, sieht sie dasselbe Elend. Es könne nicht sein, dass sich Flüchtlinge wieder in Lagern drängen. «Ich kann nicht mehr in den Krieg fahren, also helfe ich hier. Vielleicht kann ich die Leute so zum Nachdenken anregen.» Die Schweiz wisse gar nicht, wie gut sie es hat.
Und nun sitzen Alexander und Sussana in Hildas Küche und versuchen, die Sätze im deutschen Lehrbuch nachzusprechen. «Ich habe eine Brülle», stottert Sussana. «Nicht Brülle, Brille», rügt Hilda. Sie hat ihnen ein Wörterbuch gekauft, Tigrinya-Deutsch für 35 Franken. Die beiden konnten es sich nicht leisten. Hilda hat ihnen auch ein paar richtige Schuhe gekauft. Für den Winter. Sie würden ja nur in Flipflops rumlaufen.
Ohne Deutsch keine Arbeit,
und ohne Arbeit bist du niemand
«Ich will so schnell wie möglich Deutsch sprechen», sagt Alexander auf Tigrinisch. Ein eritreischer Freund übersetzt. Bloss zwei Stunden pro Woche haben sie Sprachunterricht. «Zu wenig. Deutsch ist so schwierig», sagt er. Dabei will er am liebsten schon heute eine Arbeit finden, als Schreiner vielleicht, darin hat er ein wenig Erfahrung. Sussana sagt, sie wolle wieder in einem Café arbeiten, wie in Asmara. Oder in einem Kleidergeschäft.
Aber ohne Deutsch keine Arbeit. Und ohne Arbeit bist du niemand in der Schweiz, sie wissen es. Noch leben sie von der Sozialhilfe und warten auf den Asylbescheid. Hilda sagt: «Ich setze mich mit euch hin und wir lernen. Jeden Tag.» – «Aber Mama, du arbeitest doch so viel.» – «Dann kommt ihr zu mir in die Küche und wir lernen bei der Arbeit.»
Seit einem Monat wohnen sie nun bei ihr. Schrittweise fügen sich ihre Leben ineinander. Der kräftige Alex hilft Hilda im Heimetli. Sie bringt die beiden in den Sprachkurs, wenn der Bus nicht fährt.
Wie lange sollen die Eritreer hier bleiben, Hilda? «So lange es möglich ist. Das sind jetzt meine Kinder.» Aber wenn sie doch gehen, Hilda, was dann? «Dann hole ich mir zwei Neue.» Und wie lange wollt ihr hier bleiben, Alexander und Sussana? «Bis wir sterben.»