Nicht alle wollten sich äussern: Adolf Muschg (82) beispielsweise. Der Schriftsteller hatte sich 2010, gelinde gesagt, unglücklich zu pädosexuellen Vorkommnissen an der deutschen Odenwaldschule geäussert. Muschg schwadronierte damals über den «pädagogischen Eros». Franz Hohler (74) wiederum, der Jürg Jegge persönlich gut kennt, liess am Mittwoch ausrichten: Er müsse zuerst das Buch über Jürg Jegge lesen, ehe er sich äussern könne. Seither war er für den SonntagsBlick nicht mehr zu erreichen.
Alle anderen angefragten Alt-68er haben dann aber geantwortet. Am differenziertesten gewiss der Paartherapeut Klaus Heer.
«In meinem Leben hatte ich mehr Glück als Markus Zangger und Jürg Jegge. Offenbar passte ich als Kind und Jugendlicher nie ins Beuteschema gut getarnter pädophiler Seelenhirten. Im Gegensatz zu vielen meiner Freunde. Später, im Dunstkreis von 68, hätte ich dann ohne weiteres vom möglichen Opfer zum handfesten Täter werden können. Die Stimmung war damals tatsächlich besoffen. Oder sagen wir, hedonistisch beduselt. Und die ideologische Rechtfertigung war wortreich. Sie hörte sich an wie Denken. War aber noch viel schwammiger als Jürg Jegges Interviews heute. Nur merkte man es nicht. Wollte es nicht merken. Ich will hier genau sein: Ich hatte mehr Glück als Verstand. Minderjährige zu missbrauchen, war nie mein Ding. Aber vor lauter Dummheit irgendwelche Frauen schwängern und mich so schuldig machen, das wäre durchaus zeitgemäss gewesen. Dummheit kann eben auch angeboren sein, stelle ich heute bei mir fest. Nicht nur lernbar.»
«Ich mag zwar nicht öffentlich gegen Herrn Jegge heulen. Dass aber sexuelle «Anregungen» gegenüber Kindern oder Jugendlichen im grün-linken Kuchen Allgemeingut gewesen sein sollen, muss ich mit aller Vehemenz zurückweisen. Immerhin war ich damals Strafverteidiger und hätte Einblick in derlei Mentalitäten gehabt. Davon kann aber keine Rede sein. Eine ganze politische Generation als Mittäter zu vereinnahmen, ist nichts als eine falsche Anschuldigung, die nicht tolerierbar ist.»
«Pädophilie ist etwas vom Schlimmsten, das es gibt. Sie war damals eine Sauerei. Und sie ist es noch heute.»
«Natürlich war in den 60er-Jahren alles offener und freier, aber das ist keine Rechtfertigung für sexuelle Nötigung. Mein Motto: Es ist alles erlaubt, was dem anderen nicht schadet. Aber das gilt nur für Erwachsene. Sexuelle Über-griffe auf Kinder sind ein absolutes No-Go.»
«Wir waren in den 60er- und 70er-Jahren sexuell im Aufbruch. Aber die damalige Freiheit beinhaltete nicht Sex mit Kindern. Das war moralisch genauso verpönt wie heute. Jürg Jegges Pseudo-Rechtfertigungen sind absoluter Blödsinn.»
«Während der Hippie-Zeit strebten alle nach der totalen Freiheit, auch der sexuellen. Es gab damals tatsächlich Stimmen, die behaupteten, dass Sex mit Jugendlichen positiv für deren Entwicklung sei. Es sei gut, wenn sie schon früh Bescheid wüssten. Jürg Jegge ist also sicherlich kein Einzelfall. Genauso wie es heute kein Einzelfall ist, wenn ein Priester ein Kind begrapscht. Nichtsdestotrotz: Solche Übergriffe sind einfach nur haarsträubend. Egal, in welcher Zeit sie geschehen. Jegge wusste genau, dass er etwas Verbotenes macht, sonst hätte er den Opfern nicht gesagt, dass sie es für sich behalten müssten.»
«Die strafrechtliche Schuld verjährt, die gesellschaftliche Schuld aber verjährt nicht. Und das zu Recht nicht. Damit muss Jürg Jegge jetzt leben.»