Von der Energie-Fabrik zum Altlasten-Museum?
Abschied vom Atom-Aargau

Die Schweiz verabschiedet sich von der Atomkraft. Leicht wird diese Übung nicht. Doch nirgends schwerer als im Aargau. BLICK erklärt, warum.
Publiziert: 17.04.2019 um 23:32 Uhr
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Aktualisiert: 18.04.2019 um 10:43 Uhr
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Ausgerechnet die Aargauer Bundesrätin und einstige Atomkraft-Verfechterin Doris Leuthard (56) leitete 2011 die Energiewende ein.
Foto: Keystone
Danny Schlumpf

Drei von fünf Schweizer Atomreaktoren stehen im Aargau. Atomunternehmen, Atombehörden, Atomlager, Atomforscher, Atomlobby und atomfreundliche Politiker: Alles ballt sich im Atom-Aargau.

Denn hier liegt die Wiege des Atomlands Schweiz. Auf einem grossen Grundstück in Würenlingen. Darauf liess der Industrielle Walter Boveri jr. nach dem Zweiten Weltkrieg den ersten Forschungsreaktor der Schweiz bauen. Seit 1988 heissen die dortigen Anlagen Paul Scherrer Institut (PSI). Benannt nach dem ETH-Professor, der die Schweizer Atomforschung der Nachkriegszeit geprägt und eng mit Boveri zusammengearbeitet hatte.

1969 nahm die Nordostschweizerische Kraftwerke AG (NOK) in Beznau das erste AKW der Schweiz in Betrieb. Sechs Jahre später verhinderten AKW-Gegner zwar den Bau von Kaiseraugst. Doch es sollte ihr einziger Sieg im Aargau bleiben. Die Atomindustrie machte mobil. Eine mächtige Energie-Lobby durchdrang die wirtschaftliche und politische Elite. Und die Bevölkerung zog mit. 1984 ging in Leibstadt das zweite Aargauer AKW ans Netz.

Die Atomkraft-Unterstützer hatten schlagkräftige Argumente: Die beiden AKW sorgten nicht nur für Strom, sondern auch für Steuergelder. Und für Arbeitsplätze. «Der volkswirtschaftliche Nutzen hat wesentlich zur Akzeptanz der Kernenergie im Aargau beigetragen», sagt Michael Fischer (38), Autor des neuen Buches «Atomfieber».

Ausgerechnet «Atom-Doris» zog endgültig den Stecker

Um die beiden AKW herum wuchs in den folgenden Jahrzehnten zusammen, was zusammengehört: der Energiekonzern Axpo, die Steuergemeinden, die regionalen Zulieferbetriebe, die Atomaufsichtsbehörde Ensi in Brugg, die Atommüllentsorgerin Nagra in Wettingen, das Zwischenlager und das PSI in Würenlingen. Und im ganzen Kanton Atomlobby-Organisationen und bürgerliche Politiker mit einer konservativen Bevölkerungsmehrheit im Rücken. Resultat dieser Entwicklung waren gleichförmige politische und wirtschaftliche Interessen. Im Zentrum: die beiden AKW. Auf sie waren die Aargauer stolz. Sie waren Teil ihrer Heimat und ihrer Identität geworden.

Nur folgerichtig also, dass die Atomkraft-Verfechterin Doris Leuthard (56) 2010 Energieministerin wurde. Als ehemalige Verwaltungsrätin der Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg und einstiges Vorstandsmitglied der Atomlobby-Organisation Nuklearforum hatte sie von AKW-Gegnern den Namen «Atom-Doris» erhalten.

Doch als 2011 die Reaktoren im japanischen Fukushima explodierten, vollzog die Aargauer Bundesrätin eine radikale Kehrtwende in der Energiepolitik. Für viele im Kanton kam das einem Verrat gleich. Atomausstieg? Energiewende? Konsterniert hörten die Aargauer ihrer Bundesrätin zu, als sie die Energiestrategie 2050 präsentierte. Und lehnten 2017 das neue Energiegesetz ab.

Die Mehrheit der Schweizer jedoch sagte Ja zum schrittweisen Atomausstieg. Die Energiewende kommt. Im Axporama in Böttstein ist davon allerdings noch nichts zu spüren. In Sichtweite des AKWs Beznau informiert die Ausstellung des Energiekonzerns über Stromgewinnung, Atomkraft und Atommüll-Lagerung. Die Klima-Ausstellung im Untergeschoss warnt vor einer Stromversorgungskrise.

Irgendwie muss der Aargau die
postatomare Zukunft organisieren

Davor hat auch Pöstlerin Klara Di Raimondo-Oberholzer (61) Angst. Vom Schloss Böttstein blickt sie hinab auf die beiden Reaktoren. Dann deutet sie auf ihren gelben Elektro-Töff: «Irgendwo muss der Strom ja herkommen. Ohne AKW wird es schwierig.»

In Döttingen, auf dessen Gemeindeboden das AKW steht, schaut man der Energiewende gelassener entgegen. Urs Winiger (56), der 15 Jahre für die Axpo gearbeitet hat: «Hier herrscht keine Panik. Nach Abschaltung der AKW müssen wir den Strom halt importieren. Aber das dauert ja noch eine Weile.»

Da hat er recht. Eine fixe Abschaltfrist gibt es nämlich nicht. Die Axpo will Beznau bis 2029 laufen lassen. Rekordverdächtige 60 Jahre alt ist das AKW dann. Die grüne Aargauer Nationalrätin Irène Kälin (32) kann darüber nur den Kopf schütteln: «Dieser Uralt-Reaktor ist und bleibt ein Risiko. Er muss so schnell wie möglich abgeschaltet werden.»

Ein No-Go für SVP-Nationalrat Hansjörg Knecht (59), der schon als Bub bei der Eröffnung von Beznau 1 dabei war. Jedenfalls solange die Sicherheit gewährleistet sei. «Was sind denn die Alternativen?», fragt er und verweist auf die aktuelle CO2-Debatte. «Dreckige Kohle? Atomenergie aus Deutschland?»

Über die Atomkraft werden sich Befürworter und Gegner nicht mehr einig werden. Aber irgendwie müssen sie zusammen die postatomare Zukunft des Aargaus organisieren. Schafft der Kanton den Anschluss nicht, droht er zum Atom-Museum zu werden. Der Aargau – ein grosses Axporama?

Hansjörg Knecht winkt ab: «Wir sind mit dem PSI an vorderster Forschungsfront, was die zentrale Frage der Energiespeicherung betrifft. Der Aargau ist für die Zukunft gerüstet.» Irène Kälin sieht die Sache nicht so rosig. Jetzt habe der Kanton zwar die Chance, auf die neuen Energien umzusteigen. Aber es fehle der politische Wille. «Und solange sich das nicht ändert, bleibt der Aargau auf seinen Altlasten sitzen. Dann wird er tatsächlich ein Atom-Museum werden.»

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