Vom Problemfall zum Vorbild
Darum sind die Corona-Zahlen im Tessin so niedrig

Während in der Nord- und Ostschweiz die vierte Corona-Welle die Intensivstationen füllt, ist die Corona-Lage im Südkanton entspannt. Das hat mehrere Gründe.
Publiziert: 10.09.2021 um 19:22 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2021 um 20:46 Uhr
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Trotz Touristenansturm im Sommer ist die Corona-Lage im Tessin ziemlich entspannt.
Foto: Myrte Müller
Myrte Müller

Noch vor anderthalb Jahren wütete Corona im Südkanton. Die Intensivstationen der Covid-Spitäler waren überfüllt. Menschen starben reihenweise. Die Verzweiflung war gross. Das Horror-Szenario in Bergamo (I) schien greifbar nahe. Epidemiologisch sei das Tessin Teil der Lombardei, warnten damals die Experten. Corona kenne keine Grenzen. Zudem trugen täglich rund 70'000 Berufspendler das Virus dies- und jenseits der Grenze. Die Bilanz im Tessin: 1000 Corona-Tote! Die meisten traf es in der erste und zweiten Welle.

Heute steht ausgerechnet der Südkanton gut da. Selbst die Touristenmassen in diesem Sommer gaben der vierten Welle keinen Schub. Die Tagesbilanz am vergangenen Donnerstag: 35 neue Infektionen, acht Covid-Intensivpatienten, verteilt auf sämtliche Spitäler. Keine Toten. Mit über 420'000 Injektionen sind 56,3 Prozent der Tessiner voll geimpft. Über 59 Prozent haben mindestens die erste Impfung. 25'000 warten auf ihren zweiten Piks. Allein am Mittwoch meldeten sich weitere 757 Menschen für die Erstimpfung an. Zählt man die recht hohe Zahl der Genesenen hinzu, marschiert das Tessin auf die Herdenimmunität zu.

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Erfolgreiche Impfstrategie

Wie schaffte es das einstige Corona-Sorgenkind zum Musterschüler? «Das Tessin hat seine Hausaufgaben gemacht», sagt Staatsrat Raffaele De Rosa (48) gegenüber dem «Corriere del Ticino». Der Kanton liege mit seiner hohen Impfquote ganz vorn im Schweizer Vergleich. Darauf würde man auch weiter setzen, so der kantonale Gesundheitsdirektor. Im Impfzentrum von Giubiasco braucht es keinen Vorabtermin mehr. Auch Apotheken verabreichen heute den Piks, und seit einer Woche klappern mobile Impfstationen 28 abgelegene Gebiete ab.

Selbst der einst so gefürchtete Pendlerstrom aus dem italienischen Grenzland bremst heute sogar die Pandemie. Denn die Lombardei, von wo im März 2020 die Pandemie europaweit losbrach, zieht eine mittlerweile exzellente Corona-Bilanz. In der Region mit rund zehn Millionen Einwohnern wurden am Mittwoch 655 Neuinfektionen gemeldet. Nur 55 Corona-Patienten werden auf Intensivstationen behandelt. In der Schweiz liegen diese Zahlen rund fünfmal höher: 2835 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden und insgesamt 263 Corona-Intensivpatienten – und das bei 8,7 Millionen Einwohnern.

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Emotionale Berichterstattung

Auch beim italienischen Nachbarn ist die Impfquote hoch. «7,6 Millionen Menschen sind in der Lombardei geimpft. Das sind etwa 85 Prozent der Bevölkerung im Alter über zwölf Jahre», sagt die Gesundheitsbeauftragte der Region, Letizia Moratti (71). Diese Impfquote zähle zu den höchsten weltweit, so die Ex-Bürgermeisterin von Mailand. Mit ein Grund für den anhaltenden Impfeifer der Italiener sind wohl auch die verschärften Corona-Regeln. Seit einer Woche dürfen nur noch Gäste mit einem Covid-Zertifikat, dem sogenannten Green Pass (also geimpft, genesen oder negativ getestet) ins Innere von Restaurants, in Museen, Kinos, Gyms oder Hallenbäder sowie in Fernzüge, Fernbusse und Linienmaschinen.

Für den Epidemiologen Andreas Cerny (65) spielt auch die Ehrfurcht vor dem Virus eine grosse Rolle. «Die Tessiner haben Erkrankung und Tod teils hautnah miterlebt», sagt der Luganeser Arzt. Die italienischen Medien hätten zudem sehr emotional berichtet. «Da wurde das Leiden dokumentiert, trauernde Angehörige interviewt, die Verzweiflung in den Intensivstationen gezeigt», sagt Cerny. Das habe die Menschen für die Gefahr, die von Covid-19 ausgeht, sensibilisiert.

Wie ernst die Tessiner das Virus nehmen, sehe man auch an den Schutzmassnahmen der Restaurants, sagt Massimo Suter (49). «In den vergangenen Monaten hätten diese sogar zur Senkung der Corona-Zahlen geführt», so der Präsident von Gastro Ticino gegenüber Ticinonline. Die von Bern beschlossene 3-G-Regelung für den Ausgang (geimpft, genesen, getestet) hält Suter nicht nur für überflüssig, sondern für wirtschaftlich schädlich.

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