Die Initiative verlangt, dass die Bundesverfassung gegenüber dem Völkerrecht immer Vorrang hat - unter dem Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Die SVP stellt sich auf den Standpunkt, das habe gegolten, bis das Bundesgericht die Ordnung auf den Kopf gestellt habe.
«Wir wollen nichts anderes als zurück zum Zustand vom Oktober 2012», sagte SVP-Präsident Albert Rösti (BE) in der Sommersession im Nationalrat. «Der Zustand von 2012 - das ist um Gottes Willen nicht ein solches Katastrophenszenario, wie es hier an die Wand gemalt wurde.»
Was hat es mit dem Entscheid von 2012 auf sich? «Leider brach das Bundesgericht 2012 mit der Schubert-Praxis», sagte Franz Ruppen (SVP/VS) im Nationalrat. «Ich weiss nicht, wie Sie darauf kommen», erwiderte Justizministerin Simonetta Sommaruga.
Die Schubert-Praxis besagt, dass Bundesgesetze dem Völkerrecht vorgehen, wenn der Gesetzgeber bewusst ein völkerrechtswidriges Gesetz erlässt. In den anderen Fällen geht Völkerrecht vor.
2012 hielt das Bundesgericht in einem Urteil fest, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) im Falle eines Konflikts mit einer Verfassungsbestimmung trotz eines bewussten Entscheides vorrangig anzuwenden sei. Das ergebe sich aus Artikel 190 der Bundesverfassung, wonach Bundesgesetze und Völkerrecht massgeblich sind.
«Nichts Neues», sagen die Gegnerinnen und Gegner der Initiative. Sie argumentieren, den Vorrang der EMRK als Ausnahme von der Schubert-Praxis habe das Bundesgericht schon in früheren Urteilen betont, die Schubert-Praxis in späteren bestätigt.
Die Behauptung, das Bundesgericht habe 2012 die Schubert-Praxis fallengelassen und damit die Rechtsprechung auf den Kopf gestellt, sei schlicht falsch, sagte Rechtsprofessorin Astrid Epiney gegenüber Keystone-SDA. Sie werde auch dadurch nicht wahr, dass sie ständig wiederholt werde. Vielmehr stelle das Urteil eine Bestätigung der bisherigen ständigen Rechtsprechung dar und beziehe sich ausdrücklich auf diese.
Die SVP sieht das anders. Zwar sagt auch der Zürcher SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt, das Urteil habe an der Schubert-Praxis direkt nichts geändert. Das sei aber auch nicht das Thema der Selbstbestimmungsinitiative. Für die SVP ist der springende Punkt, dass es im Urteil von 2012 erstmals um das Verhältnis einer Verfassungsbestimmung zum Völkerrecht ging - und nicht um das Verhältnis eines Bundesgesetzes zum Völkerrecht.
Wie aber kommt es zur Einschätzung, vorher habe bezüglich dieses Verhältnisses etwas anderes gegolten? Dazu verweist die SVP auf ein juristisches Lehrbuch aus den 1990er Jahren, das der Verfassung Vorrang einräumt. Für die Gegner der Initiative handelt es sich um eine von vielen Lehrmeinungen. Sie geben zudem zu bedenken, dass sich die Frage damals so nicht gestellt habe.
Daneben zitiert die SVP aus einem Bericht des Bundesrates von 2010. Dort steht: «Zudem vertritt der Bundesrat die Auffassung, dass völkerrechtswidrige Verfassungsbestimmungen umzusetzen sind.»
Neben dem Urteil von 2012 sorgt noch eines von 2015 für Diskussionen. Damals hielt das Bundesgericht fest, dass auch das Personenfreizügigkeitsabkommen Bundesgesetzen grundsätzlich vorgeht - wie die EMRK. Die SVP kritisierte dies scharf. Auch dieses Urteil sehen manche als Bestätigung - allenfalls Weiterentwicklung - eines früheren, wenig beachteten Entscheids.
Epiney hält die Erweiterung für richtig, weil Freizügigkeitsrechte in der Substanz Grundrechte seien. Auch damit hat das Bundesgericht aus ihrer Sicht die Schubert-Praxis überdies nicht aufgegeben - im Gegenteil: Indem es das Personenfreizügigkeitsabkommen als Ausnahme von dieser Praxis festlegte, bekräftigte das Bundesgericht gemäss Epiney implizit, dass die Praxis für alle anderen Abkommen weiterhin gilt.
Vogt streitet das nicht ab. Er argumentiert aber, dass der im Falle eines bewussten Entscheids des Gesetzgebers zum Zuge kommende Vorrang von Bundesgesetzen nichts bringt, wenn er für so wichtige Verträge wie die EMRK und das Personenfreizügigkeitsabkommen nicht gilt.
Der Vorrang gelte dann zum Beispiel noch für ein Provinzabkommen über die Nutzung von Strassen im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Österreich. Dagegen könnten kriminelle Ausländer nicht ausgeschafft werden. Mit dem Urteil von 2015 sei die Schubert-Praxis derart «von Ausnahmen durchlöchert», dass sie faktisch bedeutungslos sei, sagt Vogt.
Die Selbstbestimmungsinitiative würde dazu führen, dass Volksinitiativen umgesetzt werden müssten, auch wenn sie Völkerrecht verletzen. Bei einem Ja müsste die Schweiz gemäss dem Initiativtext völkerrechtliche Verträge, die der Verfassung widersprechen, neu verhandeln und nötigenfalls kündigen. Allein diese Pflicht sei ein neues Element mit weitreichenden Folgen, sagen die Gegner.
Verträge, die dem Referendum unterstanden, wären - so steht es in der Initiative - für das Bundesgericht allerdings weiterhin massgebend. Die Gegner weisen darauf hin, dass damit ausgerechnet das Personenfreizügigkeitsabkommen für das Bundesgericht weiterhin massgebend wäre, da es dem Referendum unterstand. Mit der Initiative würde somit keine Klärung erreicht, sondern Verwirrung gestiftet. Es sei die Initiative, welche alles auf den Kopf stelle und zahlreiche Unklarheiten impliziere.
Dem halten die Initianten entgegen, dass die Initiative bewusst keine bundesgerichtliche Kontrolle von Staatsverträgen einführen wolle, die dem Referendum unterstanden. Gerichte sollten Volksentscheide nicht umstossen können. Hingegen sei es am Parlament, die Verfassung umzusetzen.
Die Frage, ob und inwiefern das Bundesgericht die Rechtsprechung geändert hat, dürfte bis zum Urnengang vom 25. November noch für Diskussionen sorgen. Das Bundesgericht selber kommentiert seine Urteile nicht.
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