Affoltern am Albis ZH, Oftringen im Aargau, Stansstad in Nidwalden: An all diesen Orten spielten sich in den vergangenen Wochen Tragödien ab. Drei Rentner erschossen ihre Frauen. Zwei der Opfer waren schwer krank. Nach der Tat richteten sich zwei der Täter selbst. Der dritte rief die Polizei und wurde verhaftet.
Ein weiterer, der Öffentlichkeit bisher unbekannter Fall ereignete sich in Walterswil SO. Ein Paar verstarb am gleichen Tag. «Sie durften ihre letzte Reise gemeinsam antreten, wie sie es sich stets gewünscht hatten», schreiben die Angehörigen in der Todesanzeige.
Vier Dramen unter Rentnern, sieben Tote. Allein im Januar. Was ist mit unseren Rentnern los?
Tödlicher Stress
«Oft ist es schlicht Überforderung», sagt die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello (65), emeritierte Professorin der Uni Bern. Der tödliche Stress könne, wenn der Partner schwer erkrankt ist, durch eine belastende Pflegesituation entstehen. Zu Isolation und Verzweiflung gesellen sich häufig weitere Gründe: fehlendes Selbstwertgefühl, nicht rechtzeitig erkannte Depressionen und das Gefühl, der eigenen Lage nicht mehr Herr zu sein.
Eine bedeutende Rolle spielt laut Perrig-Chiello auch die Symbiose, die sich in jahrzehntelangen Beziehungen herausbildet: «Man kann unmöglich ohne diese eine Person weiterleben», so die Altersforscherin.
Sie nimmt einen Generationenwandel bei den Senioren wahr: «Die heutigen Alten nehmen ihr Schicksal selber in die Hand», sagt Perrig-Chiello. Ein Indiz sei die Suizidrate. Diese ist bei Rentnern überproportional hoch. Ein Drittel aller Selbsttötungen wird von Betagten verübt. Bei den nicht mitgerechneten Sterbehilfetoten machen Senioren sogar über 80 Prozent aus. International hat sich der Ausdruck «Going to Switzerland» als Begriff für den begleiteten Suizid etabliert. Die Schweiz sehen, um zu sterben.
Vor allem ein Problem der Männer
«Suizid, erweiterter Suizid und Tötungen bei Senioren sind primär ein Männerproblem», sagt Perrig-Chiello. Männer könnten schlechter mit Verlusten umgehen, seien stark auf die Partnerin bezogen und hätten neben ihr in vielen Fällen kaum weitere Bezugspersonen.
Frauen verfügten da über andere Strategien, würden etwa mit Töchtern, Freundinnen oder dem Hausarzt sprechen. «Frauen kommen auch an die Grenze, suchen aber nicht die radikale Lösung», sagt Pasqualina Perrig-Chiello.
Für den Partner sorgen, in guten wie in schlechten Zeiten: Das romantische Eheversprechen kann im Alter verheerende Folgen haben.
«Diesen Ehrenkodex, dass man alles alleine macht, sich keine fremde Hilfe für die Pflege holt, müssen wir dringend hinterfragen», sagt die Basler Psychiatrieprofessorin Gabriela Stoppe (59). Sie beobachtet in der Gesellschaft die zunehmende Tendenz, sich negativ über die «teuren und unnützen» Rentner auszulassen. «Viele ältere Menschen trauen sich gar nicht, nach Hilfe zu fragen», sagt sie.
«Es besteht Handlungsbedarf», meint auch Perrig-Chiello. Das stille Leiden der alten Menschen müsse enttabuisiert werden. Psychiatrie-Expertin Stoppe findet, es müsse dringend über eine neue Form der Nachbarschaftshilfe diskutiert werden.
Mitleid oder Mord – ein Film erzählt vom Graubereich
Die finale Szene im preisgekrönten Spielfilm «Liebe» des österreichischen Regisseurs Michael Haneke: Eine alte Frau ist krank und ans Bett gefesselt. Ihr Mann pflegt sie. Als das Ende nicht kommen will, drückt der Ehemann ihr ein Kissen aufs Gesicht. Sie erstickt.
Es ist eine Tötung, weil er nicht mehr kann. Oder weil die Partnerin nicht mehr kann. Handelt es sich um Mitleid oder um Mord? Der Film löst dieses Dilemma elegant. Irgendwann wird das Bild einfach unscharf. Es geht um einen Graubereich.
Laut einer aktuellen Studie des Bundesamts für Statistik (BFS) sind zunehmend ältere Menschen Opfer oder Tatverdächtige eines Tötungsdelikts in der Partnerschaft. In den Jahren 2000 bis 2004 waren neun Prozent der Tatverdächtigen älter als 60 Jahre, 2009 bis 2016 bereits 15 Prozent.
Bei Tötungsdelikten zu Hause – in der Schweiz jeder zweite einschlägige Fall – sind laut BFS zwei Alterskategorien besonders gefährdet: Säuglinge und Ältere. Ihre Überlebenschancen sind geringer, was den Anteil der Todesopfer erhöht. Und je enger die Opfer-Täter-Beziehung war, desto häufiger sterben die Opfer.
Oft sind Schusswaffen im Spiel
«Es scheint, dass im häuslichen Bereich die Tötungsdelikte oft geplant sind», so die Autoren. Wird die Tat bewusst vorbereitet, wird das Vorgehen mit den höchsten Erfolgschancen gewählt, die Schusswaffe. Die aktuellsten Fälle scheinen dies zu bestätigen. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte gespielt haben, dass bei Senioren häufig noch eine Armeewaffe im Haushalt vorhanden ist.
In der Schweiz bringen sich vergleichsweise viele Täter im Anschluss an ihre Tat selber um. Im internationalen Vergleich ist dieser Anteil sehr hoch. Das zeigt die Studie «Homicide in Switzerland» des bekannten Strafrechtsexperten Martin Killias.
Aber wie erklärt sich die extreme Häufung in den vergangenen Wochen? Simone Walser forscht gemeinsam mit Martin Killias. Sie führt die ungewöhnlich hohe Fallzahl auch auf die Jahreszeit zurück. Weihnachten ist vorbei, das Grau des Hochnebels drückt aufs Gemüt, alte Leute spüren ihre Gebrechen im Winter stärker.
Vier Dramen, sieben Tote! Haben da Paare beschlossen, ihr Leben gemeinsam zu beenden, oder waren es Tötungsdelikte mit anschliessender Selbsttötung? Für die Aussenwelt bleiben diese Fragen meist ungeklärt. Ebenso, ob die Tötung einvernehmlich geschah. Die Basler Psychiatrieprofessorin Gabriela Stoppe sagt es so: «In den meisten Fällen nehmen die Leute die Antwort mit ins Grab.»