Die Zahl der Gesuche sei tiefer als erwartet, sagte Luzius Mader, Delegierter für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, am Donnerstag vor den Bundeshausmedien. Dafür gibt es seiner Ansicht nach verschiedene Gründe.
So könnten Betroffene immer noch ungenügend über ihren Anspruch im Bild sein. Andere verzichteten auf ein Gesuch, weil sie keine alten Wunden aufreissen wollten. Laut Mader gibt es Opfer, die noch nie mit ihrem Umfeld über ihre Situation gesprochen haben und das Thema aus Scham tabuisieren.
Mader erinnerte daran, dass die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen nicht nur Geld erhielten, sondern auch eine Anerkennung des erlittenen Unrechts. «Schuld sind nie die Opfer», betonte er.
Dann gibt es auch jene Betroffene, die kein Geld vom Staat wollen, den sie für das erlittene Unrecht verantwortlich machen. Die Solidaritätsbeiträge seien aber keine Almosen, erklärte Guido Fluri, der Urheber der Wiedergutmachungsinitiative. «Es ist eine Anerkennung des erlittenen Unrechts.»
Auch Fluri rief alle Opfer dazu auf, ein Gesuch einzureichen. Wer nicht auf den Betrag angewiesen sei, könne ihn jederzeit weiterreichen. Pro Opfer sollen je nach Anzahl Gesuche zwischen 20'000 und 25'000 Franken ausgezahlt werden. Insgesamt hat das Parlament 300 Millionen Franken für die Solidaritätsbeiträge bewilligt.
Die administrativen Hürden für die Betroffenen sind tief. Mader betonte, dass die Opfereigenschaft nicht bewiesen, sondern nur glaubhaft gemacht werden muss. Nach seinen Angaben sind auch die Gesuchsformulare einfach gehalten.
Die kantonalen Anlaufstellen unterstützen die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller bei der Klärung ihres Opferstatus, bei der Suche nach Akten und Unterlagen und beim Ausfüllen der Gesuche. Laut dem Solothurner Sozialdirektor Peter Gomm haben die kantonalen Anlaufstellen bisher rund 3500 Personen beraten.
Fluri zeigte sich zuversichtlich: Die tiefe Zahl von Gesuchen in der Anfangsphase sei nicht erstaunlich. Schliesslich gebe es keine Adresskartei, mit der die Opfer ausfindig gemacht werden könnten, sagte er.
Der Verein Fremdplatziert jedoch glaubt, dass die Schätzung der Opferzahl zu hoch gegriffen ist. Die meisten seien inzwischen verstorben, schreibt er in einer Mitteilung. Wenn die Zahl der Gesuche tief bleibe, würden nur 60 bis 100 Millionen Franken der gesprochenen 300 Millionen Franken ausbezahlt. Das Parlament müsse über die Bücher und dafür sorgen, dass der volle Rahmenkredit ausgeschöpft werde, fordert der Verein.
Gesuche können allerdings noch bis am 31. März 2018 eingereicht werden. Die Auszahlungen werden ab April 2018 vorgenommen. Die Gesuche von kranken oder betagten Betroffenen werden vorgezogen, die übrigen werden in der Reihenfolge des Eingangs behandelt.
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen waren in der Schweiz bis 1981 angeordnet worden. Zehntausende von Kindern und Jugendlichen wurden an Bauernhöfe verdingt oder in Heimen platziert, viele wurden misshandelt oder missbraucht. Menschen wurden zwangssterilisiert, für Medikamentenversuche eingesetzt oder ohne Gerichtsurteil weggesperrt, weil ihre Lebensweise nicht den Vorstellungen der Behörden entsprach.
Im Lauf der letzten Jahre gab es erste Schritte zur Rehabilitierung der Betroffenen. An einem Gedenkanlass bat Justizministerin Simonetta Sommaruga im April 2013 die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Namen des Bundesrats um Entschuldigung.
Ende 2014 wurde die Wiedergutmachungsinitiative eingereicht. Diese forderte 500 Millionen Franken für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Bundesrat und Parlament nahmen das Anliegen mit einer Gesetzesänderung und dem tieferen Betrag von 300 Millionen Franken auf. Um die Auszahlung nicht zu verzögern, wurde die Initiative daraufhin zurückgezogen.
Das «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» trat am 1. April 2017 in Kraft. Es regelt nicht nur die Solidaritätsbeiträge. Es anerkennt auch, dass den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen Unrecht angetan worden ist, das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat.
Betroffene erhalten Einsicht in die Dokumente. Die Kantone haben Anlaufstellen eingerichtet, der Bund sorgt für eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung. Diese Arbeiten sind laut Mader in vollem Gang. Über 1100 Opfer in einer finanziellen Notlage haben zudem Soforthilfebeträge zwischen 4000 und 12'000 Franken erhalten.