Unwürdiges Flüchtlings-Pingpong
Jetzt kommt das Wallis unter Druck

Weil Frankreich die Grenzen nach Italien geschlossen hat, weichen Flüchtlinge auf die Route durch die Schweiz aus. Viele stranden hier – obwohl sie nach Frankreich oder England wollen.
Publiziert: 28.06.2015 um 17:06 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2018 um 00:04 Uhr
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Auf seiner Fahrt nach Paris durchquert der Nachtzug 220 aus Mailand das Wallis und den Kanton Waadt. Immer mehr Illegale werden im Zug aufgegriffen.
Foto: AP Photo
Von Cyrill Pinto und Florian Imbach

Als sich der Zug der Schweizer Grenze nähert, wird Ahmed (21) nervös: «No control?», fragt er. Da hat der Nachtzug Mailand–Paris gerade den Simplontunnel verlassen. Ahmed trägt ein weisses T-Shirt mit US-Flagge. Er wirkt, als habe er wochenlang nicht geschlafen. Als der Kondukteur im Zug die Pässe einsammelt, sagt Ahmed matt: «No Passport.»

Frankreich reagiert mit Grenzschliessungen

Im Nachtzug Mailand–Paris, Wagen 95, Abteil 8, liegen sechs junge Männer. Ahmed und sein Kollege Mustafa kommen aus Afghanistan. Erst vor ein paar Tagen landeten sie mit dem Boot in Bari (I). Von dort schlugen sie sich bis Mailand durch; jetzt wollen sie nach Paris – wie eine immer grössere Zahl von Flüchtlingen haben sie den Weg durch die Schweiz gewählt. Ob sie es bis nach Frankreich schaffen, ist unsicher.

Anfang Mai hat Frankreich seine Grenzen für Flüchtlinge praktisch dichtgemacht. Das Land liegt im Clinch mit Italien, wo seit Jahresbeginn über 50000 Boots-Flüchtlinge anlandeten. Als «Erstland» müsste Italien die Ankommenden registrieren – tut dies aber kaum. Stattdessen schickt es sie einfach weiter in die Nachbarländer. Frankreich wehrt sich dagegen mit der Grenzschliessung.

Die Schweiz steht zwischen den Fronten. Sie wird in das unwürdige Pingpong um die Flüchtlinge hineingezogen. Bis Anfang Mai liess Frankreich die Züge aus Mailand einfach passieren. Jetzt stoppen französische Grenzer sie immer öfter auf Schweizer Territorium, in Vallorbe VD.

«Die Franzosen durchsuchen den Zug und setzen die Flüchtlinge ohne Papiere in Vallorbe an die Luft», sagt der Walliser Staatsrat und Nationalrat Oskar Freysinger (55). Sie stehen dann im Waadtland auf der Strasse. Die Schweiz darf sie nicht weiterreisen lassen und muss sie aufnehmen oder versuchen, sie nach Italien zu bringen. Obwohl sie eigentlich nach Frankreich oder weiter wollen. «Die EU schiebt ihr Flüchtlingsproblem auf uns ab», empört sich der SVP-Politiker.

Damit die Flüchtlinge nicht in Vallorbe stranden, hat das Grenzwachtkorps (GWK) seine Einsatzpläne geändert. Grenzwächter stoppen den Nachtzug  Mailand–Paris nun in vielen Fällen bereits in Brig VS. So oft wie möglich führen sie zusammen mit der Walliser Kantonspolizei gross angelegte Kontrollen durch. 685 Illegale holten sie allein in den letzten Wochen aus dem Zug.

Ein Teil der Flüchtlinge stellt dann, entgegen ursprünglicher Absichten, Asyl in der Schweiz. Die anderen schicken Grenzwächter mit dem ersten Zug gleich wieder zurück nach Italien. Oskar Freysinger fürchtet,  dass Italien die Illegalen aus dem Nachtzug nach Paris bald nicht mehr zurücknehmen wird: «Dann haben wir wirklich ein Problem!»

Im Mai waren es 681 ohne gültige Papiere

Aktuelle Zahlen des Grenzwachtkorps belegen, dass immer mehr Flüchtlinge bei der Einreise ins Tessin gestoppt werden: Grenzwächter griffen dort bisher jeden Monat durchschnittlich 460 Personen ohne gültige Papiere auf. Im Mai waren es schon 1205. Auch in der Grenzregion 5, zu der das Wallis gehört, sind die Zahlen rasant angewachsen: Früher wurden pro Monat 200 Personen ohne Papiere aufgegriffen – im Mai waren es plötzlich 681.

SVP-Nationalrat Freysinger fordert deshalb, dass die Schweiz ihre Grenzen für Flüchtlinge schliesst: «Schweizer Grenzwächter könnten den Zug in Domodossola kontrollieren und die Flüchtlinge erst gar nicht in die Schweiz lassen. Ich bin dafür, dass die Schweiz – wie Frankreich – ihre Grenzen dichtmacht.»

Die Eidgenossenschaft sei das «offene Tor für die Flüchtlinge ausItalien». Um dieses Tor zu schliessen, verlangt Freysinger mehr Geld vom Bund: «Wir haben nicht die Mittel, systematisch zu kontrollieren.» Die Kantone Wallis, Tessin und Graubünden haben deshalb einen Brief an Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP, 59) geschrieben: «Wir haben ein Problem an der Südgrenze und brauchen Hilfe.»

Ob die Schweiz wieder systematische Grenzkontrollen einführt, entscheidet der Bundesrat. Gemäss Schengener Abkommen ist dies möglich, sobald eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit vorliegt.

«Diese Voraussetzungen sind zurzeit nicht erfüllt», sagt Martin Reichlin vom Staatssekretariat für Migration. Das GWK habe jedoch Massnahmen getroffen, um die Situation an der Südgrenze unter Kontrolle zu behalten. So habe man die  Einsätze verstärkt. Mittelfristig will das GWK 30 bis 40 weitere Grenzwächter an die Südgrenze verlegen, wie Sprecher Atilla Lardori sagt.

Doch noch fehlen die Grenzwächter. Deshalb passiert der Nachtzug von Mailand nach Paris an diesem Donnerstag Brig ohne Kontrolle. Es ist bereits nach Mitternacht, als Ahmed und sein Kollege eine Aluschale mit kaltem Reis und Hühnchen öffnen. Es ist Ramadan, die Sonne ist längst untergegangen. Erst jetzt haben sie Zeit zu essen.

«Die Schweiz? Ist schön – aber die Leute dort haben etwas gegen Muslime», sagt Ahmed. Sich hier niederzulassen, käme keinem im Abteil in den Sinn – «das Leben ist viel zu teuer, die Menschen kaltherzig.»

Ahmed will Asyl in London beantragen. Auch in Paris ist seine Reise daher noch nicht zu Ende. Doch er ist froh, dass er nicht in der Schweiz gestrandet ist.

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