Der Cervelat. Dieser leicht gekrümmte Stummel, eine Halbwurst eigentlich, ohne die Erotik einer Salami, dafür praktisch, handlich. Kalt kann man ihn essen, nature oder im Salat mit Käse und Zwiebeln. Und heiss: gekocht, gegrillt, geschmort. Man kann ihn auf Stecken stecken und bräteln, der Cervelat hält das aus. Er ist kein Schwächling wie die zerbrechliche Bratwurst. Auf dem Grill liegt er trotzdem gern. Eine Multifunktionswurst – und trotzdem ein Starrkopf: Denn Cervelat bleibt Cervelat.
Unsere Nationalwurst. Es gibt Gedichte über sie und Lieder. «Du darfsch ned sterbe, liebe Servila», sang Komiker Peach Weber während der Cervelatkrise im Jahr 2008. Als die Brasilianer ihre Zebu-Rinderdärme nicht mehr in die Schweiz exportieren durften. Und die ganze Nation um die Zukunft der Wurst bangte.
Die Kindheits-Wurst
Nun huldigt erstmals ein ganzes Buch dem fleischigen Stumpen (siehe Box Leseraktion). Es ist eine liebevolle, überraschende Würdigung, mit der man alles über die Wurst erfährt. Einer Neuentdeckung gleich kommen etwa die 23 Cervelat-Rezepte des Bündner Gourmet-Kochs Beat Caduff (56). Er kocht in seiner «Wine Loft» feinste Gerichte mitten im Zürcher Szene-Kreis 4. Wer hätte gedacht, dass sich der Cervelat, diese «Arbeiterforelle», für Risotto eignet, für Saltimbocca oder ein Stroganoff? Wir wollen darum mit dem Kenner Caduff herausfinden, warum der Cervelat sogar verwöhnte Gaumen noch immer kitzelt. «Er ist die Wurst meiner Kindheit», sagt der Koch. «Immer wenn ich hineinbeisse, erinnere ich mich an Schulreisen.»
Für eine gute Wurst fährt Caduff in die Metzgerei Keller am Manesseplatz in Zürich. Hinter der Fassade eines Quartierladens verbirgt sich eine Institution mit 50 Mitarbeitern. «Der Keller macht einfach super Würste», sagt Caduff. Und grüsst Metzgermeister Urs Keller (54) mit Handschlag.
Die beiden steigen hinab ins Kellergewölbe. Es riecht nach rohem Fleisch. Der Raum ist vollgepackt mit Kochschränken, Abfüllmaschinen, Mixern. In die Infrastruktur müsse man erst zwei Millionen Franken investieren, bevor man seine eigene Wurst in Topqualität produzieren kann, sagt Keller.
Geheime Rezepte
Neben den Maschinen stehen Kisten voller Fleisch, vom Schwein, vom Rind. Dazu Speck und Schwarte. Schweizer Fleisch, frisch muss es sein. Keine Abfallprodukte. Und schon gar keine Innereien.
Chef-Wurstmacher Cornel Mächler (44) packt die Teile in den Blitz, eine Art Mixer von einem Meter Durchmesser. Er zerschneidet 80 Kilogramm Fleisch in wenigen Minuten zu pinkem Brät. Danach schüttet Mächler Eis dazu, Salz und Nitritsalz, das sorgt für die rötlich-braune Farbe der Cervelats. Und am Schluss die Gewürzmischung. Pfeffer hat es drin, Muskatblüte und Knoblauch, das exakte Rezept ist geheim. «Das Verhältnis muss stimmen, nichts darf zu sehr dominieren. Nicht zu viel Salz, nicht zu viel Knoblauch, nicht zu viel Fett», sagt Metzgermeister Keller. «Wenn ein Cervelat vor Fett trieft, ist etwas falsch gelaufen.» Doch Fett braucht jede gute Wurst: für den Geschmack. Beim Cervelat liegt der Anteil bei rund 20 Prozent.
Wursten ist Kunst
Wurstmacher Mächler klatscht den Brät von Hand in eine Wanne. «Die feste Konsistenz ist wichtig, das gibt den richtigen Biss», sagt Keller. Knackig muss der Cervelat sein, al dente. In Pappe will keiner beissen. Für die richtige Konsistenz braucht es Erfahrung und Finesse. «Wurstmachen ist wie Malen», sagt Koch Caduff. «Nicht jeder ist ein Monet.»
Die Wanne mit dem Brät schiebt der Wurstmacher weiter zur sogenannten Spritze. Dort steht Rasim Hodzic (52). Seit 17 Jahren füllt er die Wurstmasse in die berühmten brasilianischen Rindsdärme. «Fast jeden Tag», sagt er. Erst zwirbelt er 20 Meter feuchten Darm auf die Spritze. Dann drückt er einen Knopf. Im Halbsekundentakt schiesst das Brät mit Druckluft in den Darm. Je nach Grösse des Cervelats sind es 70 bis 150 Gramm. Eine Metallklammer bindet das Wurstende sogleich ab. 5000 bis 10'000 Würste füllt Hodzic an einem Tag ab.
Bald hängen die Cervelats im Ofen und werden bei 60 Grad geräuchert. Danach brüht 75 Grad heisser Dampf die Würste. Schön bräunlich glänzen sie dann. Gourmet-Koch Caduff schnappt sich frische Cervelats und fährt zu einer Feuerstelle oberhalb von Zürich. Er will, natürlich, den Cervelat am Stecken über das Feuer halten. «So muss es doch sein, nicht?»
Teurer Wein passt
Caduff packt die Würste auf ein Holzbrett, legt sizilianische Tomaten, Senf mit Urwaldpfeffer und einen Pinot noir von Gantenbein dazu, «den besten und teuersten Schweizer Wein», sagt er. «Zu einem günstigen Gericht nehme ich immer die besten Zutaten und Getränke, das passt perfekt zusammen.» Die Weinkiste landet gleich im Feuer.
Der perfekte Schnitt
Was braucht es für den perfekten Cervelat, Beat Caduff? Welches Brot zum Beispiel? «Ich nehme immer St. Galler Weissbrot. Ein sanftes Brot. Man sollte nicht den Wurstgeschmack übertünchen.» Welches Messer, um die Wurst schön einzuritzen? «Ein Sackmesser natürlich. Eins, das haut.» Wie soll man die Wurst schneiden? «Ein schönes Kreuz an jedem Ende des Cervelats. Die Schnitte drei bis vier Zentimeter tief, damit die Enden hochrollen.» Der Stecken? «Aus grünem Hasel, damit er nicht brennt. Oder ihn über Nacht in Wasser einlegen.» Warum die Tomaten? «Für die Farbe, fürs Auge.» Warum kein Bier? «Sollte man nur trinken, wenn einem heiss ist. Ich ziehe Wein vor.»
Gleich zwei Cervelats pikst Beat Caduff auf einen Spiess und hält sie dicht über die Glut. «Wenn noch ein paar Flämmchen züngeln, das ist der Zeitpunkt», sagt er. Die Wurst solle man ja nicht über loderndes Feuer halten, dann wird sie schwarz. Der Cervelat braucht Geduld. 15 Minuten mindestens. «Aber als Kind haben wir trotzdem immer früher hineingebissen, weil wir so hungrig waren», sagt Caduff.
Bald glänzen die Würste, feucht vom Fett. Ein Biss in die Wurst. Es knackt. Kräftig der Geschmack, leicht rauchig, leicht salzig. Die Geschmacksnoten halten sich die Waage. Ein Biss ins Brot, Senf dazu. Wohlig kitzelt die Wurst am Gaumen. Ein Schluck Wein – perfekt.
Dann liegt der Cervelat im Bauch, und der Rauch sitzt in den Kleidern. Sein Duft erinnert an Tage im Wald, damals, an Räuber und Poli und Tannzapfenschlachten, nach denen man zum Feuer rannte, mit grummelndem Magen. Die Wurst schnell auf den Stecken, mit beiden Händen hielt man ihn über die Glut und konnte es kaum erwarten, der erste Biss, der zweite, dritte, so lecker, verkohlt und heiss die Wurst, vielleicht hing noch ein wenig Tannenreisig dran, weil man sie fallen liess. Wir waren satt, wir waren glücklich.