Manche Entwicklungen werden erst sichtbar, wenn sie bereits eingetreten sind. So auch beim Fussballspiel Bern gegen Basel vor einer Woche. Fans störten die Partie, indem sie Gegenstände aufs Spielfeld warfen und Transparente zeigten: aus Protest gegen E-Sport. Was ging da ab? Nicht nur der Kommentator hatte Mühe, den Sinn der Aktion zu verstehen.
Plötzlich redet alle Welt über E-Sport. Und das Thema geht so bald wohl nicht wieder weg. «Es handelt sich definitiv nicht nur um einen Trend», sagt der Medienwissenschaftler Jörg Müller-Lietzkow, Professor an der deutschen Universität Paderborn.
Die besten Spieler kassieren schon Millionen
Das «E» in E-Sport steht für elektronisch, gemeint ist der Wettkampf unter Computer- und Videospielern. Junge Männer – selten Frauen – treten dabei gegeneinander an, Millionen wollen zuschauen. Sie gelten als lukrative Zielgruppe: technikaffin, empfänglich für Werbung und vor allem zahlungsbereit.
Wie im klassischen drängen auch im E-Sport Firmen mit ihren Inhalten und Botschaften in die Wohn- und Kinderzimmer. Die Spieler bewerkstelligen den Transport: In Ligen weltweit wetteifern sie um Preisgelder und Prestige. Mehr als zehn Millionen Dollar kassierten fünf Deutsche jüngst für einen Turniersieg, ihr Captain ist mit rund vier Millionen Dollar in seiner Karriere der Topverdiener der Branche. Der Mann ist 25 Jahre alt!
Die grössten Player sind allerdings noch gar nicht dabei: Facebook und Google wollen auch mitspielen. Amazon sitzt bereits am Tisch, hat für eine Milliarde Dollar eine E-Sport-Plattform eingekauft, 140 Millionen tummeln sich in seiner Spielewelt – zweimal die Bevölkerung Frankreichs: Reichweite und Masse, das ist die neue Währung.
Man mag diese Entwicklung bedauern. So tun es die protestierenden Fans in Bern, die Profitgier, Kommerzdenken und fehlenden Sportgeist beklagen. E-Sport trage weder zur Gemeinschaft noch zur körperlichen Ertüchtigung bei. Sie befürchten, dass die neue Disziplin für die traditionellen Klubs dereinst obligatorisch werden könnte.
Reale Klubs spielen auch elektronisch mit
Man mag diese Entwicklung aber auch begrüssen. So tut es Luca Boller (24), der gerade seinen Bubentraum lebt, aber keineswegs dem Klischee des gammelnden Gamers entspricht: Der zweifache Schweizer Meister im Fussballspiel «Fifa» achtet auf seine Ernährung, hält sich fit und trainiert täglich: «Ich vergleiche es mit virtuellem Schach. Ich plane Spielzüge, gehe strategisch vor, bewege Spieler auf dem Feld.»
Kürzlich gab er seinen Job bei der Bank auf, jetzt ist er Vollprofi beim FC Basel. Der Klub unterhält eine eigene E-Sport-Truppe und gab diese Woche seinen neusten Zugang bekannt. Wie im richtigen Fussball: Boller gibt Autogramme und achtet auf sein Verhalten. Er habe, so sagt er, nun eine Vorbildfunktion.
Mehr als 800'000 Menschen in der Schweiz – jeder zehnte Einwohner – spielt Videospiele. «Für uns ist es die Chance, eine sonst nicht erreichte oder schwer zu erreichende Gruppe anzusprechen», sagt Roland Heri, CEO des FC Basel. «So können wir sie vielleicht langfristig an uns binden, bevor es andere tun.» Ein Fussballklub dürfe sich neuen Einnahmequellen nie verschliessen. Luca Boller ergänzt, das Potenzial von E-Sport werde künftig noch viel intensiver genutzt werden.
Keiner will den Trend verschlafen
Thomas Bach sieht das ähnlich. Der früher skeptische Präsident des Internationalen Olympischen Komitees verkündete jüngst in Indonesien, er halte E-Sport als olympische Disziplin für denkbar – zwar nicht sofort und wohl auch erst nach dem Ende seiner Regentschaft, aber immerhin. Bachs Sinneswandel zeigt: Keiner will die Sause verschlafen.
In Biberist SO wird gerade eine Papier- zur Gamefabrik umgemodelt. In Tuggen SZ wird der Lebensmittelhersteller Knorr zum Hauptsponsor der heimischen E-Sport-Liga. In Bern wurde die klassische Spielwarenmesse von einem E-Sport-Event abgelöst, dessen Veranstalter sich mit rekordverdächtigen Preisgeldern brüsten. Staatsbetriebe wie Postfinance und Swisscom wollen ebenfalls mitmischen, Postfinance sucht nach Spielern, Swisscom hat laut «Handelszeitung» bereits den Namen für eine eigene Liga eintragen lassen.
Und in China kann man E-Sport neuerdings studieren, drei Jahre dauert es bis zum Abschluss. Diplomierter E-Sportler kann man sich danach nennen.
Und was hat das mit Sport zu tun?
Nur: Handelt es sich um Sport? «Man findet zumindest alle Ingredienzen, die es für den normalen Sport braucht», sagt Medienforscher Müller-Lietzkow. Es sind die gleichen wie bei jedem beliebigen Schachturnier: Vereine, Ligen, Turniere, Training, Arenen, Publikum, Funktionäre... Der Professor plädiert dafür, E-Sport bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris zu Demonstrationszwecken auszuprobieren: «Das Medienecho würde gigantisch ausfallen.»
Und wer weiss. Vielleicht interessieren sich bis dahin auch die Frauen dafür.