Es ist Samstagabend, kurz nach acht Uhr. Endlich geht das Licht aus, der ganze Saal im Zürcher Volkshaus starrt zur Bühne. Es ist jetzt sehr still. Eine tiefe Stimme ertönt aus den Lautsprechern und bittet, den Herrn Doktor Jordan Peterson (56) zu begrüssen: «Und bitte keine Störungen.» Und da schreitet dieser bereits ins Rampenlicht, ziemlich rockstar-mässig langsam, Applaus, Jubel, Verzückung.
Oben steht ein grosser, dünner Mann – in einem teuren, gestreiften Dreiteiler, die Augenbrauen manchmal herausfordernd hochgezogen –, für den der Begriff «Phänomen» ausnahmsweise einmal zutrifft. Jordan Peterson gilt als einer der derzeit einflussreichsten Intellektuellen weltweit. Die Videos des Psychologieprofessors aus Toronto, Kanada, schauen sich Millionen an, seine Tour begleiten Hunderttausende.
Ausgangssperre für Besucher
Für Rechtsgesinnte ist er ein Held, der sich gegen die politische Korrektheit auflehnt, für die Linken ist er ein Provokateur, der verunsicherten Männern reaktionäre und frauenfeindliche Geschlechtermodelle unterjubelt. Und dann spricht er, mit seiner recht hohen Stimme: frei, gestikulierend, empört, leicht gebeugt und leidend, manchmal etwas ausser Atem. Peterson entzieht sich einer schnellen Einordnung, er ist nicht ideologisch. Der Kanadier steht für konservative Werte, die seit den 1960er-Jahren in Vergessenheit geraten sind – und die tönen unter anderem so: «Steh aufrecht, die Schultern nach hinten! Bring dein Leben in Ordnung! Werde ein besserer Mensch! Übernimm Verantwortung!»
So geht das weiter mit seinen «12 Rules for Life», wie sein Buch und seine Tour heissen. Man denkt, das ist nichts Neues. Aber offenbar wollen das Millionen hören, die Menschen ändern seinetwegen ihr Leben. Böse Zungen nennen ihn den klugen Kopf des dummen Mannes.
Draussen sind mittlerweile Demonstranten gegen Peterson aufmarschiert, auch Ambulanz und Polizei sind aufgefahren, bewaffnet mit Gummischrotgewehren. Niemand darf das Volkshaus verlassen. Ein Mitarbeiter wurde von Aktivisten am Kopf verletzt, er sitzt mitgenommen auf einem Stuhl im Foyer. Das Publikum drinnen im Saal merkt davon nichts.
Auftritt gleicht einer Messe
Peterson spricht nun über Raubtiere, feminines Chaos, maskuline Ordnung. Er nennt sich klinischer Psychologe, man hat irgendwie das Gefühl, einem Mediziner zuzuhören. Er analysiert, skizziert, klassifiziert. Es ist auch eine Vaterfigur, die da spricht. Niemand im Publikum guckt aufs Handy, schwatzt, gähnt, denn das hier ist eine Messe, aufgelockert mit gelegentlichen Lachern. Es geht ihm ums grosse Ganze. Seit den Jugendunruhen der 1980er hat vermutlich niemand im Volkshaus auf diese Art zum Volk gesprochen. Was damals natürlich anders tönte.
Zürich ist seine einzige Station im deutschsprachigen Raum. Danach verschlägt es den Wanderprediger nach Neuseeland. Seine Jünger, mehrheitlich Männer zwischen 20 und 40, sind an diesem Samstagabend von weither angereist. Jonathan aus Lausanne: «Ich brauche seine Ideen für meinen Lebenssinn.» Jeremy aus dem französischen Metz: «Ich bewundere ihn». Tarek aus dem deutschen Heidelberg: «Er steht für Meinungsfreiheit.» Maria aus Freiburg im Breisgau (D): «Er kann über schwierige Dinge nüchtern reden.»
Nach über einer Stunde hat er seinen Vortrag beendet – und setzt sich zum ersten Mal hin. Applaus, Applaus. Noch immer auf der Bühne, greift er sich einen Laptop. Die Leute dürfen ihm nun Fragen stellen, via Handy. Der halbe Saal kramt nach dem Telefon, denn viele haben Fragen an ihren Mentor.
Nach draussen darf man mittlerweile auch wieder, die Lage hat sich beruhigt, die Aktivisten sind weg. Aber hier will gar keiner weg.