Totes Dorf – volle Halle

Zu Fuss durch die Schweiz - von Basel bis Chiasso. Autor Hanspeter Bundi nimmt sich auf seiner Wanderung Zeit für Land und Leute. Heute: Von Airolo nach Faido.
Publiziert: 24.09.2008 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.09.2018 um 19:43 Uhr

Für die obere Leventina sieht es nicht gut aus. Das Tal verliert Einwohner. Häuser stehen leer. Häuser zerfallen. Betriebe schliessen. Die Bahnhöfe werden nicht mehr bedient und gammeln vor sich hin. Das Tal geht vor die Hunde. Das ganze Tal? Nein, da ist noch – es tönt wie bei Asterix und Obelix – ein Unternehmen, das dem Lauf der Zeit widersteht.

Mit 48 Angestellten produziert der florierende Kleinbetreib während 8 Monaten im Jahr Spektakel und Emotionen und ist damit zum einzigen Sammelpunkt der oberen Leventina geworden.

«Wenn der HC Ambri-Piotta nicht wäre, hätte es hier nichts», sagt Jean-Jacques Aeschlimann, Direttore Tecnico des Clubs, und er möchte das Wort gleich wieder zurückholen. Muss er aber nicht, denn die Einheimischen sagen genau dasselbe. Ohne Ambri wäre die Leventina verloren. «Der Hockeyclub ist eine Hoffnung für das Tal.»

Wir sitzen im stillgelegten Bahnhof von Ambri, wo sich die BiancoBlu eingemietet haben, die Blauweissen. Aeschlimann, der während 14 Saisons für den HC Lugano auf dem Eis stand – ein äusserst sympathischer, zuvorkommender und feiner Mann – ist letztes Jahr zu Ambri gekommen und dieses Jahr zum Direktor ernannt worden. Saisonziel, sagt Aeschlimann, sei das Erreichen der Playoffrunde. Dort dürfen die Tifosi an Wunder glauben, zum Beispiel an den ersten Meistertitel in der Geschichte des Vereins. Aeschlimann ist Realist. Er kennt seine Mannschaft. Er weiss, was sie leisten kann. Und er weiss, dass er eines der kleinsten Budgets der Nationalliga A verwaltet. Für ihn liegt das Wunder anderswo. «Dass es Ambri noch gibt, ist eines», sagt er.

Ich lasse den blau gestrichenen Bahnhof hinter mir und wandere weiter, durch die Dörfer Fiesso und Rodi und durch die Piottino-Schlucht hinunter nach Faido, zehn Kilometer durch ein Tal, das in vielem dem Reusstal auf der andern Seite des Gotthards gleicht. Engnis. Ein Bergbach. Grossartige Kunstbauten für die Bahnlinie und für die Autobahn.

Bei jedem vorbeifahrenden Zug bewundere ich die Leistung der Ingenieure und Arbeiter, die vor 130 Jahren die Gotthardbahn so anlegten, dass sie auch heutigen Erfordernissen genügt. Faido ist ein Dorf, das Lebenszeichen von sich gibt. Migros, Coop und Denner sind da, ein halbes Dutzend Bars, drei Bankfilialen. In Faido, so der Eindruck, beginnt die prosperierende Welt.

Doch ich lasse mich zurück nach Ambri fahren. Für den Abend ist ein Spiel gegen die Kloten Flyers angesagt, und ich will die Montanara hören, das seligweiche Lied, das von goldenen Tälern und silbernen Flüssen und Sehnsucht handelt.

Die Fans von Ambri-Piotta singen es, wenn ihre Mannschaft gewinnt, und alle, mit denen ich spreche, erwähnen den Schauer, der jeden überkomme, wenn Tausende von Männern, Frauen und Kindern das Lied anstimmen. Ich möchte diesen Schauer erleben, aber – dies sei vorweggenommen – es kommt nicht dazu. An diesem Abend spielen die Blauweissen so grottenschlecht, dass die Kloten Flyers mit einem ungefährdeten Sieg heimfahren können.

«Wer Ambri liebt, muss leiden können», sagt Patrizia Manzocchi. Sie hat prächtig gekrauste, blond und braun eingefärbte Haare und ein Gesicht, das ein ganz klein wenig älter ist als diese Haarpracht. Patrizia ist einer jener Fans, die bereit sind, mit dem Klub unterzugehen. «Ambri liebt man», sagt sie, das ist Feststellung und Verpflichtung zugleich.

Und dann kommt sie noch einmal auf das Leiden zurück. Für die Jungen sei das eine ausgezeichnete Schule. Mit den Niederlagen lernten sie, dass das Leben kein Zuckerschlecken sei, dass man hin und wieder untendurch müsse und dass das Leben trotzdem immer weitergehe, immer weiter. Patrizia würde auch in die Valascia kommen, wenn Ambri in der Nationalliga B spielte. Sie liebt die Valascia, obwohl oder weil die Glamourisierung des Eishockeys hier keine, aber auch wirklich keine Spur hinterlassen hat.

Das Heimstadion der Blauweissen klebt am Hang wie eine beleuchtete Schildkröte in einem wenig beleuchteten Tal. Die Tribünen sind alt, viele Zugänge sind unübersichtlich. Die Pressevertreter sitzen auf einem alten, zugigen Balkon unter dem Dach, und das Stadionrestaurant hat den Charme einer Baustellenkantine. Die Valascia wirkt wie ein Provisorium, das zur Dauereinrichtung wurde. Ein Glas Wein aus einem der kleinen Kioske kostet gerade mal drei Franken.

Die Stimmung an diesem Abend ist gut. Das Spiel ist schlecht. Das sehen auch die eingefleischten Fans. Sie versuchen zwar, ihre Mannschaft singend nach vorn zu treiben, und sie pfeifen, wenn die Schiedsrichter Strafen gegen Ambri verhängen. Doch im letzten Drittel kommt die Ernüchterung. Zwei Mal hat sich die Mannschaft aufgebäumt, zwei Mal haben die Klotener den Dreitoreabstand wiederhergestellt. Jetzt ergeben sich Fans und Mannschaft in die Niederlage. Einmal braust noch Jubel durch die Halle:Das Matchtelegramm meldet in roter Leuchtschrift die 2:5-Niederlage Luganos gegen Langnau.

Der HC Lugano ist der Intimfeind der BiancoBlu. Bei den Derbys zwischen Ambri-Piotta und den Luganesi treten zwei Welten gegeneinander an. Die Mannschaft aus der ausgebluteten Leventina gegen die Spieler aus dem prosperierenden Sottoceneri. Das Bergtal gegen die Stadt mit den subtropischen Sommern. Die Ungeschminkten gegen die Aufgemotzten. Die Modernisierungsverlierer gegen die Globalisierungsgewinner. David gegen Goliath. Arm gegen Reich. «Und die Linken gegen die Rechten», sagt Christina, Patrizias Tocher, die nicht nur bei allen Heimspielen, sondern auch bei den Auswärtsspielen ihres Clubs dabei ist.

Die Fans von Ambri, die einheimischen jedenfalls, sind erklärtermassen links. Sie wählen sozialdemokratisch, sie solidarisieren sich mit den Arbeitern der SBB-Werkstätte in Bellinzona, sie sammeln Geld für die Tibeter, für Afrika, und sie sehen sich in einer Reihe mit den Fans des FC St. Pauli in Hamburg oder mit den Tifosi des AS Livorno.

Über der Curva Sud, wo die jungen Fans stehen, hängt ein Porträt Che Guevaras, des Mannes also, der nach der kubanischen Revolution in Bolivien einen zweiten Aufstand anzetteln wollte und dabei elend und erfolglos ums Leben kam. Che sei, sagt Christina halb ironisch, halb im Ernst, so etwas wie der Stadionheilige der Valascia.

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