Auf der Promenade in Ascona TI, wo SonntagsBlick Aldo Rampazzi (72) zum Gespräch trifft, verlustieren sich dieser Tage fast ausschliesslich Deutschschweizer Touristen: Schritt für Schritt kehrt die Normalität zurück. Der Präsident von Ticino Turismo war 16 Jahre lang Sindaco des mondänen Städtchens am Lago Maggiore. Der freisinnige Ex-Bürgermeister zündet sich eine Zigarre an: «Jetzt muss es aufwärtsgehen!»
SonntagsBlick: Herr Rampazzi, die Touristen sind wieder da. Was überwiegt – die Freude, dass das Feriengeschäft in Fahrt kommt oder die Angst vor einer zweiten Welle?
Aldo Rampazzi: Natürlich die Freude! Vergessen Sie nicht: Noch im April flehten wir darum, dass die Touristen nicht zu uns kommen. Es war ein absurde Situation. Doch was hätten wir anderes tun sollen? Die Spitäler waren voll und wir als Gesellschaft überfordert. Stellen Sie sich vor: Die Deutschschweizer sind unsere wichtigsten Kunden. Wir reden hier von fast 65 Prozent. Und denen mussten wir sagen: Bleibt zu Hause! Corona war wie ein Liebesentzug mit harten finanziellen Folgen.
Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich habe mit einer seltenen Muskelkrankheit zu kämpfen, die mich in den Rollstuhl zwingt. Als die Corona-Welle übers Tessin schwappte, befand ich mich auf Brissago zur Therapie. Meinen Aufenthalt musste ich sofort abbrechen. Die Spitäler brauchten die Zimmer für Covid-Fälle. Ich verlor einen guten Freund an Covid-19 und ging zwei Monate nicht mehr aus dem Haus.
Alles stand still ...
… kein Verkehr, alle Restaurants und Bars waren geschlossen. Sogar Bauarbeiten wurden vorübergehend eingestellt. Über den Frühling, der hier im Tessin besonders fröhlich ist, legte sich eine seltsame Stille. Die Menschen hatten Angst um ihre Gesundheit, um ihre Jobs. Wissen Sie, ich bin privilegiert: Ich muss mir keine finanzielle Sorgen machen. Aber für eine Familie mit zwei Kindern in einer kleinen Wohnung und beschränkten Mitteln war der Lockdown besonders hart.
Hat der Bundesrat aus Ihrer Sicht die Krise bislang gut bewältigt?
Vergleichen wir die Situation mit Italien: Im damals grössten Corona-Hotspot ausserhalb Chinas, in der Lombardei, bei unserem Nachbarn notabene, brach das totale Chaos aus. Die Spitäler waren heillos überfordert, Zehntausende starben. Die italienische Politik versagte. Im Tessin war die Lage weniger dramatisch. Und doch mussten wir schnell handeln. Bern begriff nach kurzem Zögern, dass die Situation hier komplizierter ist als im Rest der Schweiz. Und gab uns deshalb mehr Freiheiten, harte Massnahmen durchzusetzen.
Hätte der Bundesrat nicht – wie viele Tessiner Politiker forderten – früher durchgreifen sollen?
Im Nachhinein kann man immer sagen, Bern hätte schneller und besser intervenieren müssen. Wir dürfen aber nicht vergessen: Auch die Kantone können handeln. Und genau das taten wir. Wir riefen den Notstand aus, schlossen die Schulen, sagten Sport-Events ab, verordneten einen Baustopp.
Dann kam die Grenzschliessung.
Ein nötiger Schritt, aber ein tiefer Eingriff. Zum Glück galt dies nicht für die Grenzgänger. Das wäre fatal gewesen. Aus den lombardischen Provinzen Como und Varese pendeln jeden Tag fast 70'000 zur Arbeit ins Tessin. Ohne sie wäre die hiesige Wirtschaft nicht überlebensfähig – in der Krankenpflege, im Gastgewerbe, auf dem Bau. Die Grenzgänger halten sich an die Regeln. Sie wollen nicht auffallen, weil sie viel zu verlieren haben.
Nun ist die Grenze wieder für alle offen. Das missfällt dem Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi. Was sagen Sie?
Ganz einfach: Dies ist eine politische Entscheidung, die der Bund getroffen hat. Sie betrifft nicht nur den Tourismus, sondern auch die Wirtschaft. Ticino Turismo nimmt das zur Kenntnis.
Gobbi wird nicht müde, zu betonen, dass Bern versagt hat. Sehen Sie das auch so?
Man kann immer das Gegenteil behaupten. Ich sehe das nicht so. Es hat etwas gedauert, bis sich Bund und Kanton einig waren. Danach war die Zusammenarbeit gut.
Als Touristiker könnten Sie wohl kaum etwas anderes sagen.
Das Tessin befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Tourismus und der Gesundheit der Bevölkerung. Ohne Gäste fehlen dem Tessin relevante Einnahmen. Jobs gehen verloren. Gleichzeitig gilt es, Bevölkerung und Besucher zu schützen. Wir Tessiner haben begriffen – früher als die Deutschschweizer –, dass Masken Schutz bieten. Für einmal sind wir sogar sorgfältiger, wenn es darum geht, Regeln aufzustellen und zu befolgen.
Kamen die Lockerungen des Bundes für Ihren Kanton nicht zu früh?
Nein, nicht wenn wir die Schutzmassnahmen weiterhin befolgen. Und das liegt auch in der Verantwortung der hiesigen Bevölkerung und der Touristen, die ihre Ferien hier verbringen.
Ab morgen Montag herrscht Maskenpflicht für das Servicepersonal. Ist das ...
… ein richtiger Schritt! Unser höchstes Gut ist, dass sich die Touristen hier wohlfühlen. Wenn sie permanent Angst haben müssen, sich mit Corona anzustecken, kommen sie nicht mehr. Das wäre ein Albtraum für jede Destination! Deshalb sind solche Schutzmassnahmen sinnvoll. Absurderweise hat uns das einen Vorteil gegenüber Italien beschert.
Inwiefern?
Während die Touristen Venedig, Florenz oder Bergamo meiden, kommen sie zu uns ins Tessin. Warum? Weil sie uns vertrauen. Italien kann den Touristen bis heute nicht glaubhaft versichern, dass es die Situation im Griff hat. Man wirft uns sogar vor, Spielchen zu spielen.
Das müssen Sie erklären ...
Das italienische Fernsehen drängte mich in einem Interview, zuzugeben, dass die Schweiz Touristen aus dem Norden abhalten würde, nach Italien zu reisen. Was für ein Quatsch! Wie sollte ich das denn tun? Die Zusammenarbeit mit Italien war schon immer schwierig. Das hat Tradition.
Der Einbruch bei den Logiernächten ist auch im Tessin gewaltig. Erwarten Sie Hotel- und Restaurantschliessungen?
Aufholen können wir die verlorenen Monate März und April nicht mehr. Dass jetzt aber reihenweise Hotels und Restaurants schliessen, erwarte ich nicht. Wir werden – in der Hoffnung, mit der Zahl der Logiernächte noch etwas aufzuholen – die Saison bis im November verlängern.
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