Lisa Bosia Mirra (45), der «Engel» der Flüchtlinge von Como, sitzt lange vor Beginn der Verhandlung im Saal. Noch bevor Richter sowie Staatsanwältin den Saal betreten. In der Hand hält sie einen Spickzettel. Der Prozess soll nicht nur ihrer Verteidigung dienen. Sie will auch anklagen.
Im Sommer 2016 versorgten die SP-Grossrätin (45) aus Mendrisio IT und ihre Hilfsorganisation Firdaus spontan die Gestrandeten im Park am Bahnhof San Giovanni in Como (I) – nicht nur mit einer Suppenküche. Sie gaben juristischen Rat, begleiteten Minderjährige bei ihren Asyl-Anträgen.
Seit Donnerstagmorgen, 9 Uhr, steht die Tessinerin in Bellinzona TI vor Gericht. Sie hat zwischen dem 18. August und dem 1. September insgesamt 24 Flüchtlingen bei neun verschiedenen Gelegenheiten geholfen, illegal in die Schweiz einzureisen und sich hier aufzuhalten.
«Helfen oder Nichthelfen - jede Entscheidung hat ihren Preis»
Dafür war Lisa Bosia Mirra bereits im April 2017 via Strafbefehl zu 80 Tagessätzen à 110 Franken – ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung – und zu einer Busse von 1000 Franken verurteilt worden.
Ein Urteil, das die Menschenrechtsaktivistin nicht akzeptieren wollte. Nicht des Geldes wegen. «Helfen oder Nichthelfen: Jede Entscheidung hat ihren Preis», sagt Lisa Bosia Mirra während der Vernehmung durch den Richter. «Der Preis des Nichthelfens ist so viel grösser, deshalb bin ich heute hier.»
Am 18. August 2017 nimmt die Sozialarbeiterin zwei Syrer bei sich Zuhause in Genestrerio IT auf: Einen jungen Mann und seinen kleinen Neffen (10). Sie waren in Como und wollten nach Deutschland zu den Eltern des Buben.
«Fünf Mal wurden sie an der Tessiner Grenze beim Versuch durch die Schweiz zu reisen aufgegriffen und wieder nach Italien geschickt. Da habe ich ihnen helfen wollen», sagt die Grossrätin. Am nächsten Tag kauft sie den beiden ein Ticket nach Frankfurt.
Am 1. September wurde Lisa Bosia Mirra auf frischer Tat ertappt
In der Nacht darauf lotst sie ein Auto mit zwei Eritreerinnen an Bord über einen unbewachten Grenzübergang. Das Gleiche passiert auch in den folgenden Tagen. Schliesslich wird sie verhaftet, bleibt einen Tag in Haft.
«Ich konnte nicht anders als zu helfen», beteuert die Angeklagte. «Es waren Menschen in grosser Not.» Kinder und Jugendliche, die zu ihren Verwandten in die Schweiz oder nach Deutschland wollten. Die Grenzwacht habe ihnen nicht geholfen, klagt sie an. «Viele fragten in der Schweiz nach Asyl, wurden aber gar nicht erst zum Staatssekretariat für Migration gelassen, sondern gleich wieder an die Grenze gestellt. Die Grenzwacht entschied, wer Asyl beantragen durfte und wer nicht.»
«Sie haben kein Geld und kein Gepäck»
Sie habe Menschen geholfen, die in Libyen gefoltert worden seien. «Unter denen war ein Mann, dem die Libyer die Füsse mit Hämmern zerschlagen hatten. Eine Frau war mehrfach vergewaltigt, ihre Backenknochen zertrümmert worden. Eine andere hatte gerade ihren Bruder bei einem Schiffbruch verloren. Ein anderer wiederum hatte kurz vorher versucht, sich zu erhängen. Die Verzweiflung dieser Leute ist so gross.»
Es habe keinen legalen Weg für sie gegeben, keine Lösung. «Diese Menschen haben nichts, kein Geld, kein Gepäck, oft nur Zettelchen mit irgendeiner Telefonnummer drauf. Sie sind vollkommen auf Hilfe angewiesen», sagt Lisa Bosia Mirra. «Sie sind für mich Familie geworden. Ihre Erlebnisse haben sich bei mir eingebrannt.»
Es folgen die Plädoyers der Staatsanwältin und der Verteidigung. Das Urteil wird kommende Woche erwartet.