Tessiner Rollstuhlfahrer erlebt auf S-Bahn nach Italien den blanken Horror
Statt 21 Minuten brauchte er 9 Stunden

Die neue Linie soll Passagiere in 21 Minuten von Mendrisio TI nach Varese (I) bringen. Für den halbseitig gelähmten Antonio Canonica (60) wurde die Fahrt zur neunstündigen Odyssee.
Publiziert: 16.01.2018 um 18:22 Uhr
|
Aktualisiert: 12.09.2018 um 14:51 Uhr
1/12
Gleiswechsel auf dem Bahnhof Induno Olona: Mission impossible!
Foto: Remy Steinegger
Myrte Müller

Acht Jahre lang dauerten die Bauarbeiten. Dann ist es so weit. Seit einer Woche pendelt die erste S-Bahn regulär zwischen Mendrisio TI und dem italienischen Varese. In nur 21 Minuten, verspricht der Fahrplan. Antonio Canonica (60) aus Sementina TI ist begeistert.

«Früher war ich oft in Varese, habe dort sogar eine Zeit lang gelebt», sagt der Rentner, «jetzt kann ich endlich mit der S-Bahn meine Freunde dort besuchen.» Am Tag nach der Eröffnung düst der halbseitig Gelähmte gegen 18 Uhr mit seinem Elektro-Rollstuhl los. Was Antonio Canonica noch nicht ahnt: Aus dem abendlichen Kurztrip wird eine Horror-Fahrt. 

Die Tilo-Regionalbahn rollt in Mendrisio an. Antonio Canonica schafft es in den Waggon. So weit, so gut. Doch in Varese wartet die erste böse Überraschung. Zwischen Zugtür und Gleis klaffen 40 Zentimeter. Unüberwindbar für den Rollstuhlfahrer. «Auch mit Hilfe der Schaffner war an einen Ausstieg nicht zu denken», sagt Antonio Canonica, «sie hätten mich rausheben müssen. Mein Rollstuhl wiegt ja schon 200 Kilo und ich noch weitere zwei Zentner.»

Der Lift ist ausser Betrieb und die Rampe verschlossen

«Sie müssen zurück zur Station Induno Olona und dort das Gleis wechseln. Sie nehmen den nächsten Zug. Der hält dann auf einem anderen Gleis in Varese, wo der Ausstieg möglich ist», erklärt ihm ein Schaffner.

Der Tessiner Behinderte bleibt in der S-Bahn. Sie fährt zurück, hält in Induno Olona (I). Antonio Canonica rollt auf den Perron. Diesen gilt es nun zu wechseln. Die Odyssee nimmt seinen Lauf. «Der Lift zum anderen Perron war ausser Betrieb», erzählt Canonica weiter, «da wollte ich die Rampe hoch. Die aber war durch ein Eisentor versperrt.» Es ist 19 Uhr. Im kleinen Bahnhof ist kein Mensch mehr. 

«Zufällig patrouillierte eine Polizeistreife», erzählt der Tessiner Rollstuhlfahrer, «die riefen die Feuerwehr». Die Männer versuchen den Lift in Gang zu bringen. Vergebens. Auch das Eisentor kriegen sie nicht auf. Es ist nun schon nach 20 Uhr. Antonio Canonica muss in den Wartesaal. Fünf Stunden harrt der Rentner in der Kälte aus. Erst um 3.10 Uhr kommt eine Bahn, die ihn wieder in die Schweiz bringt. 

Antonio Canonica will wieder mit der Bahn nach Varese

Er sei in seinem Leben viel gereist, sagt Antonio Canonica. Er kenne ganz Europa. Sogar in Kolumbien und in der Dominikanischen Republik sei er gewesen. «So was habe ich noch nie erlebt», sagt der gelernte Elektriker.

Antonio Canonica war immer ein Mann der Tat. «Ich habe in vielen Jobs gearbeitet, auch als Klavier-Transporteur», erzählt Antonio, «habe sogar das Piano von Ray Charles zu einem Konzert geschafft.» Vor fünf Jahren erleidet er einen Halsschlagaderverschluss und wird zum Schwerstbehinderten. 

Der Lift geht zwar wieder, dafür ist der Wartesaal zu

Doch Canonica gibt nicht auf. «Ich reise fast jeden Tag mit meinem Rollstuhl», sagt er. Durchs Tessin. In die Deutschschweiz. Nach Mailand (I). Und auch nach Varese will Antonio wieder. Als BLICK mit ihm die Horror-Strecke nochmals abfährt, ist in Induno Olona noch immer kein Mensch. Der Lift geht zwar wieder. Aber der Wartesaal ist diesmal zu.

Dafür sind in Varese gleich fünf Bahnangestellte zur Stelle, die eine Extra-Rampe zum Gleis bauen. Freundlichkeit im Rampenlicht? Oder wird nun immer Rollstuhlfahrern geholfen? Zügführerin Michela Mancino (29) beteuert: «Es tut mir sehr leid, was passiert ist. Er hätte sich direkt an uns wenden müssen, damit wir ihm seine Reise gut organisieren können.» Canonica bleibt optimistisch: «Ich werde wieder versuchen nach Varese zu fahren.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?