Sie kommen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Unangemeldet. In Uniform oder in Zivil. Auch bewaffnet. Stundenlang stehen sie vor den Häusern ihrer «Zielpersonen». Sie prüfen, wie gefüllt der Briefkasten ist, ob nachts das Licht brennt, der Parkplatz leer steht. Sie dringen in die Häuser. «Bei mir haben Beamte Kühlschrank und Abfallkübel untersucht, die WC-Rollen im Bad gezählt und meine Schränke durchwühlt», erzählt ein Italiener in der Sendung «Falò» im Tessiner Fernsehen. Alles ohne Durchsuchungsbefehl.
Jedem Ausländer, dem im Südkanton die Aufenthaltserlaubnis «B» verfällt, drohen die Bespitzelung und Hausdurchsuchungen, auch stundenlange Verhöre in Polizeirevieren. Sinn der zuweilen aufwendigen und für den Steuerzahler teuren Polizei-Aktionen sei, so das Tessiner Justizdepartement, Scheinaufenthalte aufzudecken und Kriminalität vorzubeugen.
Seit 2018 bedarf es für den Antrag auf einen Schweizer Pass die Aufenthaltsbewilligung «C». Wer nun eine solche Bewilligung beantragt und nicht erhält, dem kann auch die «B»-Bewilligung entzogen werden. «Dann müssen diese Leute das Land innerhalb weniger Wochen verlassen», erklärt Rechtsanwalt Paolo Bernasconi (72). «Da gibt es Menschen, die seit Jahren im Tessin leben, hier ein Haus besitzen, eine reguläre Arbeit haben und Kinder, die hier zur Schule gehen.» Wurden 2013 noch 192 Aufenthaltsanträge abgelehnt, sind es 2019 bereits 908. Fast fünf Mal so viel.
Hunderte von Bespitzelungen kommen zutage
Da die meisten Ausländer im Südkanton Italiener seien, trifft diese «glatte Schikane», wie Bernasconi sie nennt, vor allem die Italiener. Er selber habe unter seinen Mandanten unzählige Opfer der neuen Willkür. Ihnen wurde die Aufenthaltsbewilligung entzogen. Sie rekurrieren gegen den Widerruf. Erst dann erhalten sie Einblick in die Akten. «Da kommen die Observierungen, die heimlich gemachten Fotos und Einträge zutage», sagt der Luganeser Anwalt, «zum Teil wurden die Menschen in mehr als Hundert Gelegenheiten heimlich aufgesucht und bespitzelt.»
Paolo Bernasconi ist nicht der Einzige, der Italiener juristisch vertritt, die nun abgeschoben werden sollen. «Ich habe von viele Kollegen gehört», sagt der Rechtsanwalt, «es sind Hunderte von Italienern, die zur Zeit um ihre Aufenthaltsgenehmigung kämpfen». Der frühere Generalstaatsanwalt und prominente Mafia-Jäger hält die Methoden für illegal. «Nach der Strafprozessordnung dürfen Hausdurchsuchungen nur durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden. Und es braucht einen Verdacht auf ein schweres Delikt», sagt Bernasconi. «Das Tessin ist ein Polizei-Staat geworden.»
Nun reagiert auch Italien gegen die Tessiner Ausländer-Politik
Die Wogen, die der TV-Beitrag und den darauffolgenden Medienrummel auslösten, erreichen auch Italien. Gemeindepräsidenten der Grenzregionen protestieren. So empört sich der Sindaco von Luino (I), Andrea Pellicini: «Das ist die reine Hexenjagd auf italienische Bürger, die im Tessin leben.» Er bezeichnet die Ausländer-Politik der Lega gar als «administrative ethnische Säuberung.»
Selbst Rom wird aufgewühlt. Der sozialdemokratische Senator und Lombarde Alessandro Alfieri (48) hat eine parlamentarische Anfrage lanciert. Die Regierung solle die Rechte der Italiener in der Schweiz schützen und einen Dialog in Bezug auf das in den bilateralen Verträgen mit der EU garantierte Aufenthaltsrecht eröffnen. Denn, so betont auch Paolo Bernasconi, die aktuelle Ausländerpolitik im Kanton verstosse gegen das Schengen-Abkommen.