Immer wenn ein Prozess beginnt, bekommt die Anklageschrift ein Gesicht. Am Mittwoch in Lugano TI ist es das von Federico R.* (21). Runde Wangen. Ängstliche braune Rehaugen, die immer wieder den Blick des Verteidigers suchen. Dieser sitzt wegen Corona weit weg. Trotz des dunklen, klassischen Anzugs wirkt Federico R. kindlich. Devot nennt er den Richter Herr. Er antwortet klar und intelligent. Ab und an wischt er sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. Ein Massenmörder sieht anders aus. Das denkt wohl jeder im Saal, als ihn Federico R. betritt.
Doch dann beginnt die Verhandlung. Bei seiner Festnahme am 10. Mai 2018 findet die Polizei ein umfangreiches Waffenarsenal: Zwölf Gewehre, zehn Pistolen, zwölf Bajonette, zwei Messer, einen Baseball-Schläger und 3179 Patronen. Diverse Eintragungen ins Tagebuch und ein Video öffnen den Abgrund. Sie zeigen: Federico R. plant minuziös ein Massaker an seiner Schule. Er will eine unbestimmte Zahl an Menschen töten. Elf ganz sicher. Ihre Namen stehen auf einer Todesliste.
Bluttat im Video angekündigt
Der Schüler verfasst ein Testament, entwirft Pressemitteilungen. Am 7. Mai nimmt er sich mit der Webcam auf – und kündigt seinen Amoklauf an. 100 Patronen will er verballern. Er will von Klassenraum zu Klassenraum ziehen, von Etage zu Etage. Das Datum steht fest. Das Blutbad soll am 15. Mai 2020 passieren und im letzten Stock des Schulgebäudes enden. Mit seinem eigenen Tod. Federico R. will sich ein Messer in den Bauch rammen und in den Mund schiessen. Das Ereignis soll die ganze Welt schocken.
Weil Federico seine Freundinnen schonen will, warnt er sie über Snapchat. Eine Schülerin alarmiert die Schule und diese die Polizei. Der Fast-Amokläufer wird festgenommen und in die psychiatrische Klinik in Mendrisio TI gebracht.
Warum der ganze Wahnsinn, will der Richter wissen. Federico R. hat keine klare Antwort. Er habe sich als Versager empfunden. Dabei ist der Tessiner ein guter Schüler, hilft seinen Kollegen bei den Hausaufgaben. Federico hat Freunde. Vor allem Mädchen mögen ihn. Wie einen Bruder. Doch nur der nette Kumpel und Streber, das wollte Federico R. nicht sein. Er empfindet Ablehnungen, die schliesslich zum Selbsthass führt. Das psychiatrische Gutachten spricht von einer tiefen Depression und einer narzisstischen Persönlichkeit.
Die Welt sollte ihn so hassen, wie er sich selber hasst
Er habe etwas Monströses machen wollen, damit die Welt ihn so hasst, wie er sich selbst. Federico R. empfindet sich damals als Teufel, fühlt sich seelenverwandt mit Massenmördern wie Hitler oder Charles Manson. Heute aber, so beteuert er vor Gericht, erschrecke ihn sein damaliger Wahn und stimme ihn traurig. «Ich habe Hoffnung jetzt und freue mich auf eine Zukunft. Ich will arbeiten und eine Familie gründen.»
Hätte Federico R. tatsächlich das Massaker angerichtet, wenn er nicht gestoppt worden wäre? Und: Ist er weiterhin eine Gefahr für die Gesellschaft? Für den Staatsanwalt steht fest: «Dieser Junge war eine tickende Zeitbombe. Er hätte viele Menschen getötet.» Daher fordert die Anklage siebeneinhalb Jahre Haft und eine psychiatrische Therapie.
* Namen geändert