Im Süden beginnt der «Wilde Westen» des Tessins. Stabio, Ligornetto, Novazzano, Brusino Arsizio – wer in diesen Grenzorten eine Tankstelle betreibt, lebt gefährlich. Zwischen März und November wurden im Umkreis von nur 20 Kilometern zwölf Shops überfallen. Die Täter waren schwer bewaffnet, die Opfer meist wehrlose Frauen hinter dem Tresen.
Die Masche ist stets die gleiche: Die Räuber kommen von Italien über die Grenze, räumen in Sekundenschnelle die Kassen der nahegelegenen Tankstellen leer – und verschwinden wieder nach Italien. Meist schlagen sie freitags zu.
Den kabellosen Pager hält Ornello Rusconi (67) immer in der Hosentasche. Bei Knopfdruck wird die Polizei alarmiert. Vor 47 Jahren übernahm der Tessiner die Tankstelle seiner Eltern im Ortsteil San Pietro von Stabio. Nur 500 Meter vom Grenzübergang nach Clivio (I) entfernt.
Tankstelle gleicht heute einer Festung
Gut 20 Mal wurde die Tamoil seither überfallen. Achtmal war Ornello Rusconi persönlich betroffen. Heute gleicht seine Tanke einer Festung: Videoüberwachung, elektrische Türverriegelung, Alarmanlage. Täglich kommt eine Streife vorbei.
«Unter den Räubern sind auch richtig schwere Jungs», sagt der Tankstellenbesitzer. «Einmal haben sie mir das Maschinengewehr an den Hals gehalten.» Echte Profis, aber auch Verzweifelte dringen in den Shop. Letztere seien besonders gefährlich, so Rusconi. «Die sind im Hochstress und reagieren zuweilen völlig unkontrolliert.» Eines dürfe man auf keinen Fall: den Helden spielen! «Zwei meiner Kollegen wurden getötet, weil sie sich wehren wollten.»
2013 begann Elisabetta (41) ihren Job an der Via Dogana. Jedes Jahr hat die Grenzgängerin seither mit Räubern zu tun. «Dreimal wurden meine Kollegin und ich mit Waffen bedroht», sagt die Verkäuferin.
«Geld her oder ich blase dir das Hirn weg!»
Besonders die ersten Überfälle hätten sie belastet, erzählt Elisabetta. Beim allerersten habe der Räuber gedroht: «Geld her oder ich blase dir das Hirn weg!» Sie trage keinen Schmuck, keine Uhr mehr bei der Arbeit, sagt die Italienerin.
«Nachts holen mich die Bilder ein. Die Angst ist immer da. Ich denke an meinen fünfjährigen Sohn. Schrecklich, wenn mir etwas zustossen würde», sagt Elisabetta. Doch unterkriegen lasse sie sich nicht, sagt sie. «Ich schaue mir jeden Kunden genau an, bevor ich ihn in den Shop lasse.»
Ihr wachsamer Blick verhinderte in diesem Jahr einen Überfall. Es war der 21. Juli, 12.40 Uhr: Ein Mann will in den Shop, bollert an die Glastür. Die Schirmmütze ist tief ins Gesicht gezogen. «Der kam mir verdächtig vor», erzählt Elisabetta. «Er solle seine Mütze abnehmen, habe ich ihm zugerufen. Doch er wollte nicht. Ich öffnete ihm die Tür nicht. Danach zog er ab.»
Nur eine Stunde später überfiel der gleiche Räuber mit seinem Komplizen eine BP im Nachbarort Novazzano.