Exakt vor zwei Wochen kamen die ersten Zahlen aus Norditalien. Ein 38-Jähriger aus Codogno (I) sei am Coronavirus erkrankt. «Patient 1» habe möglicherweise Familie, Freunde, Kollegen und Spitalpersonal angesteckt, so die italienischen Medien damals.
Heute sind im Land fast 6000 Menschen infiziert und 366 am Virus gestorben. Die allermeisten stammen aus Norditalien. Auch die Schweiz meldet mittlerweile 312 Fälle und zwei Corona-Tote. Weltweit gibt es über 100'000 Infizierte und 3500 Todesopfer.
In der Nacht Dekret verabschiedet
Wegen der dramatischen Zahlen zieht Italiens Premier Giuseppe Conte (55) in der Nacht auf Sonntag die Notbremse: Er erklärt kurz vor drei Uhr morgens die gesamte Lombardei sowie 14 Provinzen in den Regionen Venetien, Piemont, Emilia-Romagna und Marche zum Sperrgebiet.
Niemand darf raus, niemand darf rein. Und zwar bis zum 3. April. Das gilt, so das Dekret, auch für alle italienischen Grenzgebiete zur Schweiz. So weit die Informationslage am Sonntagmorgen. Die Folgen: Der Grenzübergang in Gaggiolo (I) schliesst vorübergehend, auch die Centovalli-Bahn der FART fährt nur noch bis zur Schweizer Grenze. Im Tessin, wo jeder dritte Arbeitsplatz von einem Grenzgänger besetzt ist, gehen sämtliche Alarmglocken los.
«Corona-Flüchtlinge» kommen nicht weit
In Italien bricht Panik aus. Hunderte von Italienern ziehen zum Hauptbahnhof und dem Bahnhof Porta Garibaldi, drängen sich in die letzten Züge Richtung Süden. Oder sie versuchen noch, Fernbusse zu ergattern. Nichts wie raus aus der «roten Zone». Egal, ob mit oder ohne Fahrkarte.
«Wir zahlen lieber eine Busse, als in der Lombardei zu bleiben», erklärten einige in italienischen Medien. Weit kommen sie nicht. Im Süden des Landes werden die «Corona-Flüchtlinge» aus dem Norden festgehalten und in Quarantäne gesetzt. In den Gefängnissen von Modena, Neapel und Frosinone kommt es zu Meutereien. Häftlinge fühlen sich nicht geschützt. Sie zertrümmern das Inventar der Haftanstalten, versuchen über die Mauern zu klettern.
Viele Stunden Ratlosigkeit im Tessin
Den Sonntag über herrscht Ratlosigkeit dies- und jenseits der italienischen Grenze. Rund 70'000 Grenzgänger arbeiten im Tessiner Handel, den Fabriken, im Transport, in Hotellerie und Gastronomie, auf Baustellen, aber auch im Gesundheitswesen. Allein 3800 Ärzte und Pflegefachkräfte kommen aus dem Grenzgebiet. Dürfen sie am Montag zur Arbeit kommen?
«Wenn unsere Krankenschwestern nicht mehr über die Grenze können, wäre das für die Tessiner Spitäler eine Katastrophe», sagt Luzia Mariani-Abächerli (67), Präsidentin der Tessiner Sektion des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), «denn sie sind vor allem auf Notfallversorgung und Intensivpflege spezialisiert.»
Am Nachmittag gibt Rom Entwarnung
Auch die Tessiner Wirtschaft zittert. CVP-Nationalrat Fabio Regazzi (57), Präsident des kantonalen Industrieverbandes AITI, ist in grosser Sorge. Wie auch der Verbandsdirektor: «Wir hatten schon überlegt, die Betriebsferien vorzuziehen», sagt Nicola Bagnovini. So manches Unternehmen hat bereits Zimmer gebucht. «Bei unseren Hotels, vor allem in Lugano und im Mendrisiotto, gab es Hunderte von Zimmerreservierungen für Grenzgänger», sagt Lorenzo Pianezzi, Präsident der Tessiner Sektion von Hotellerie Suisse, zu BLICK. Das Hotel Montaldi in Locarno TI beispielsweise bietet einen «Corona-Tarif» von 25 Franken pro Übernachtung.
Das grosse Aufatmen erfolgte gestern um 18 Uhr. «Italien hat der Schweiz bestätigt, dass die Grenze zwischen den beiden Ländern für Grenzgängerinnen und Grenzgänger offen bleibe», schreibt Bundesratssprecher André Simonazzi in einer Mitteilung. «Die Grenze bleibt auch offen für den Warenverkehr.» Dies habe der italienische Aussenminister Luigi Di Maio (33) seinem Amtskollegen, Bundesrat Ignazio Cassis (58), in einem Telefongespräch angekündigt. Bedingung: Die Grenzgänger müssen über ein Dokument verfügen wie den Ausländerausweis G, das ihre Berufstätigkeit beweist. Wie sicher ist es, täglich 70'000 Grenzgänger aus dem Sperrgebiet in die Schweiz zu lassen? Unklar. Die Not an Personal scheint grösser zu sein als die Angst vor möglichen Ansteckungen.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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