Alain Scherrer (55) blickt hoffnungsvoll aus seinem Fenster auf die noch verwaiste Piazza Grande. In wenigen Wochen startet hier die Saison. Der Gemeindepräsident von Locarno TI will aus dem berühmten Platz eine riesige Sonnenterrasse machen – mehr liegt diesen Sommer nicht drin.
BLICK: Sie sind Politiker, Bürgermeister, Elektrotechnik-Ingenieur beim Kanton, Familienvater und Rockmusiker. Sie kämpften mit dem Coronavirus also gleich an fünf Fronten. Welche Schlacht war die schwerste?
Alain Scherrer: Sicherlich am bittersten waren die dramatischen Situationen in manchen Familien unserer Bekannten. Sie hatten infizierte Verwandte auf Intensivstationen, die sich nicht besuchen durften. Einige dieser Patienten haben das Virus nicht überlebt. Glücklicherweise war meine Familie von solchen Tragödien nicht betroffen.
Ihre Stadt lebt auch von grossen internationalen Veranstaltungen wie dem Filmfestival oder Moon & Stars. Wie sieht es damit dieses Jahr aus?
Leider müssen wir auf musikalische Grossevents wie Moon & Stars verzichten. Wir sind auf jeden Fall sehr glücklich darüber, dass uns dieses Event bis 2025 garantiert wurde. Das Filmfestival wird experimentell stattfinden. Ohne grosse Vorführungen. Filme und Prämierungen wird es eher im Streaming geben. Tagsüber bleibt Locarnos Attraktivität erhalten. Der Abend bleibt leider limitiert.
Sie sind Rocksänger in der Band Vasco Jam. Fehlt Ihnen die Musik?
Enorm. Auch wenn die grossen Konzerte nicht stattfinden, so hoffe ich doch, dass kleine Gigs, wie beispielsweise auf einer kleinen Bühne auf der Piazza Grande, möglich sein werden.
Wie haben Sie persönlich den Lockdown erlebt?
So wie viele andere Familien auch. Meine 82-jährige Mutter wohnt im gleichen Hauskomplex. Wir konnten sie von weitem in ihrem Garten sehen. Meine Frau hat den Fernunterricht für unseren neunjährigen Buben übernommen. Sie war am Abend richtig erschöpft. Ich habe versucht, so viel wie möglich im Homeoffice zu erledigen, musste aber hin und wieder beruflich aus dem Haus oder ins Rathaus.
Hatten Sie Angst, unterwegs infiziert zu werden?
Die hatte ich. Eine ganze Reihe von Mitarbeitern in der Gemeinde erkrankte in dieser Zeit. Ich vermute an Covid-19. Auf jeden Fall galt auch in der Familie – soweit das überhaupt geht: So wenig Körperkontakt wie möglich. Die Umarmungen, die haben mir besonders gefehlt.
Wie hat sich Locarno in der Epidemie geschlagen?
Noch bevor der Kanton sich organisierte, hatten wir bereits eine Taskforce gebildet. In Locarno entstand das erste Corona-Spital. Lugano und Locarno hatten entgegen der Anordnung bereits die Schulpflicht aufgehoben, und wir waren unter den Ersten, die die Baustellen schlossen.
Haben sich die schnellen Massnahmen bemerkbar gemacht?
Unsere Region ist nicht so getroffen worden wie das Süd- und Nordtessin. Im Mendrisiotto gibt es viele Grenzgänger aus der Lombardei, und dass es beispielsweise in der Leventina so viele Corona-Fälle gab, lag auch am Karneval in Bellinzona.
Zu Ostern lancierte die Tessiner Regierung einen dramatischen Appell an die Deutschschweizer. Sie sollten die Sonnenstube meiden. Jetzt aber sollen sie wiederkommen. Was hat sich geändert?
An die Zeit vor Ostern erinnere ich mich gut. Die Kurve der Ansteckungen stieg rapide an. Es war sehr schmerzhaft, unseren Gästen abzusagen. Aber wir wollten sie schützen. Wir haben aber auch immer betont: Sobald es wieder geht, warten wir mit offenen Armen auf sie.
Das ist jetzt der Fall?
Ja, die Fallzahlen sind zum Teil auf null gesunken. Und wir sind gut vorbereitet. Hygiene und Abstand stehen ganz oben bei unseren Vorsichtsmassnahmen. Wir haben gute Konzepte, damit unsere Region so schön wie immer bleibt.
Konkret?
Restaurants und Bar werden viel mehr herausstuhlen. So können Abstände eingehalten werden. Die Stadt erlaubt auch, Parkplätze und Höfe zu nutzen – und wir verzichten weitgehend auf Mieten. So wird unsere Piazza Grande zu einer grossen Terrasse.
Wird eine Corona-Polizei das Social Distancing kontrollieren?
Da wollen wir sehr vorsichtig vorgehen, vielleicht Beamte in Zivil oder Gemeindemitarbeiter einsetzen, die das Publikum sensibilisieren sollen.
Wie sind Ihre Prognosen für die Zukunft?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich wünschte, ich hätte eine Kristallkugel, in die ich schauen könnte. Man weiss ja nicht, wie sich das Virus entwickelt und ob es uns gelingt, es zu bekämpfen. Ich denke, wir werden – auch im Tourismus – mit Corona leben müssen.
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