Um 9.30 Uhr beginnt in Lugano TI einer der wohl emotionalsten Prozesse der Tessiner Geschichte. Eine Familie reist aus dem pfälzischen Otterberg (D) an. Sie trägt Schwarz. Es sind die Angehörigen von Kurt S.* (†43), dessen Frau Petra (†43) und den Töchtern Luise (†8) und Emely (†12).
Sie verloren an jenem, wie der Chefankläger sagt, «verfluchten 26. Juli 2016», Sohn, Enkelinnen, Geschwister. Die Augen der Frauen sind mit Tränen gefüllt, die der Männer fest auf G. P.* (52) gerichtet. Zum ersten Mal treffen Familie und der LKW-Chauffeur aufeinander.
Der Angeklagte sitzt im Rollstuhl. Der Kopf ist gesenkt. Er wagt nicht, jenen in die Augen zu schauen, denen er so grausam das Liebste nahm. Er könne nichts dafür, beteuert er. Er leide an der Schlafkrankheit. Das habe er damals nicht gewusst. Es tue ihm so leid, sagt G. P. mit heiserer Stimme. Hilflos hebt er die Schultern. Er wolle die Familie um Verzeihung bitten. «Es wäre besser gewesen, wenn ich auch damals gestorben wäre», sagt der italienische LKW-Fahrer mit dünner Stimme im Gerichtssaal.
«Es vergeht kein Tag, ohne dass ich an die Opfer denke»
Jener Dienstag beginnt für den Chauffeur aus Padua (I) um 4.30 Uhr. Er fährt zum Arbeitgeber nach Madone bei Bergamo (I), belädt seinen LKW mit 21 Tonnen Mineralwasser. Die Fracht soll in die Deutschschweiz. Um 12.08 Uhr rast der rote Laster mit Anhänger auf einer Geraden der A 2 in der Höhe von Quinto TI ungebremst in ein Stauende. Auf dem Tacho: konstante 90 km/h. Er schiebt den Ford-Van der Familie S. unter einen Granit-Transporter, der vor dem PKW steht (BLICK berichtete). Das Fahrzeug der Deutschen wird zusammengepresst. Die Insassen sind auf der Stelle tot.
G. P. selber wird schwer verletzt. 16 Mal ist er seitdem operiert worden. Drei weitere Eingriffe folgen noch. Seine gesamte rechte Körperhälfte wird beim Horror-Crash zertrümmert. Der Chauffeur ist heute vollinvalid. Doch das Allerschlimmste, so G. P. zu BLICK: «Es vergeht kein Tag, ohne dass ich an die Opfer denke, für sie bete.»
Was war passiert an jenem «verfluchten» 26. Juli? Die Staatsanwaltschaft warf ihm mehrfache fahrlässige Tötung und einen groben Verstoss gegen die Strassenverkehrsordnung vor. G. P. sei unachtsam gewesen. Er forderte 20 Monate bedingte Haft auf Bewährung.
Der Chauffeur trank nicht, nahm keine Drogen oder Medikamente
Doch G. P. war ausgeruht damals. Er war erst drei Tage vor der Fahrt aus den Ferien zurückgekehrt. Er trank nicht. Er nahm keine Drogen oder Medikamente. Und er legte immer Pausen ein. Seine Handys waren abgeschaltet. Ein Fachartikel in einer Tessiner Zeitung bringt Verteidiger Stefano Genetelli auf die Idee. Leidet G. P. möglicherweise an Narkolepsie?
Eine Untersuchung im Schlafzentrum des Civico-Spitals in Lugano bestätigt die Vermutung. G. P. leidet tatsächlich an einer schweren Form der Schlafkrankheit. Wie im Schlafwandel sei es auch möglich, dass G. P. den LKW noch eine Zeit lang korrekt lenkte, so der untersuchende Professor. G. P. hatte von diesem Leiden keine Ahnung. Nie sei er je beim Fahren eingeschlafen.
Für seinen Anwalt steht fest: G. P. kann nicht für den schrecklichen Unfall verantwortlich gemacht werden. Das sieht auch das Gericht so und spricht den LKW-Chauffeur frei.
Doch bei diesem Prozess sind alle Verlierer. Die Mutter des verunglückten Familienvaters sagt zu BLICK: «Wir glauben an die göttliche Gerechtigkeit.» Und auch der LKW-Chauffeur ist ein gebrochener Mann, wie er zu BLICK sagt. «Frieden werde ich in diesem Leben nicht mehr finden.»
*Namen bekannt