Elf Menschen tot, ein wirres Bekennerschreiben – und viele offene Fragen. Was steckt hinter dem Terroranschlag in Hanau (D)? BLICK hat bei Gewaltexperte Dirk Baier, Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, nachgefragt.
BLICK: Herr Baier, wie schätzen Sie die Tat in Hanau ein?
Dirk Baier: Zuerst war ja die Annahme, dass es sich um einen rechtsextremen Anschlag handle. Aus meiner Sicht ist es eher aus einer diffusen, verschwörungstheoretischen Motivation heraus geschehen. Wobei rechtsextreme und fremdenfeindliche Motive sicher auch eine Rolle gespielt haben.
Kann man die rechtsradikalen Motive von den anderen Motiven – wie etwa Frauenfeindlichkeit und Verfolgungswahn – trennen?
Wir wissen schon aus der Forschung, dass diese Verschwörungstheorien und bestimmte menschenfeindliche Orientierungen gegenüber Frauen und Fremden ein Syndrom ergeben. Die gehören also zusammen, tauchen aber nicht immer zusammen auf. Antisemitische Motive hat man jetzt zum Beispiel nicht gesehen. Es sind also Versatzstücke, die hier zusammenkommen und die dazu führen, dass man Hanau als eher rechten Anschlag einordnen kann.
Schon vier Tage vor der Tat lud Tobias R. ein Video ins Internet. Warum ist so ein Täter der Polizei noch nie aufgefallen?
Internet-Aktivitäten werden nicht komplett überwacht – das wollen wir auch gar nicht. Ich wundere mich also nicht, dass der mutmassliche Täter nicht auf dem Radar der Geheimdienste und der Polizei war. Vielmehr wundert mich, dass er in seinem sozialen Umfeld nicht aufgefallen ist und er Waffen organisieren konnte. Offenbar hat ja nicht einmal seine Mutter, die er auch getötet hat, bemerkt, dass sich da eine Radikalisierung vollzieht.
Gibt es vergleichbare Attentate?
Ich denke an Norwegen, wo der Täter Anders Breivik junge Menschen getötet hat. Breivik handelte auch aus diffusen und theoretischen, fremdenfeindlichen Motiven heraus. Es hilft aber nichts, das jetzt in ein Verhältnis zu setzen oder gar zu relativieren. Ich finde, wir müssen uns jetzt mit dem konkreten Fall auseinandersetzen und schauen, was schiefgelaufen ist. Woher der Täter auch die Unmengen an Munition herbekam, etwa.
Könnte so was auch in der Schweiz passieren?
Die Schweiz hat in den letzten Jahren ein sehr niedriges rechtsextremes Aktivitätsniveau. Im letzten Jahr gab es null rechtsextrem motivierte Gewalt in der Schweiz. Es ist keine aktive Szene. Nichtsdestotrotz wissen wir durchaus, dass es solche Netzwerke gibt. Die Tat in Hanau sollten die Schweizer Behörden und den Nachrichtendienst dazu motivieren, an diesem Thema dranzubleiben. Wir müssen auch in der Schweiz wachsam sein. Fremdenfeindlichkeit und Ausländerfeindlichkeit sind auch hier ein Thema.