Wenn Tinu heute auf dem Platzspitz steht, kann er den Kontrast zu früher kaum fassen. Heute weht ein lauer Wind durchs Rondell, ein Jack Russell Terrier pinkelt an den Sockel des bronzenen Hirschs, ein paar Jugendliche sitzen auf dem Rasen und machen Selfies. Idyllisch. Nicht für Tinu. Bis 1992, bis zu seiner Schliessung, «war der Platzspitz einer meiner Spielplätze», sagt der Endvierziger mit Armen voller Tattoos, die die Spuren von damals verdecken.
Damals lagen bei eisigen Temperaturen dürre Gestalten in Decken gehüllt im Rondell. Vor dem Toilettenhäuschen, das als Abgabestelle von sauberen Spritzen diente, fuchtelten Süchtige mit gebrauchten Nadeln herum. Und überall kochte jemand in einem Löffel Brown Sugar, verunreinigtes Heroin, mit Ascorbinsäure über einer Kerzenflamme auf.
«Coci, Schuger, einfach alles» jagte sich Tinu in die Venen. Später gings weiter auf dem Letten. Da ging es für ihn rauer zu und her, Tinu nennt es «Kriegsgebiet». Er lebte von Schuss zu Schuss. Und dealte, um sich den Stoff leisten zu können. Jetzt, wo er beim Rondell steht, spürt er all das in der Magengegend. «Der Ort triggert mein Trauma.»
Süchtige treffen sich für Konferenz auf dem Platzspitz
So wird es vom 19. bis 21. Juli vielen gehen. Genau hier, beim Platzspitz, gastiert die Europäische Konferenz der Narcotics Anonymous (NA). Bis zu 1500 Süchtige von überall her werden gemeinsam ihre Drogenfreiheit feiern. Allein 400 sollen es aus der Schweiz sein. Sie alle sitzen von Genf bis Wil SG in regelmässigen Meetings zusammen. Und teilen ihre Erfahrungen. Die Selbsthilfeorganisation hat Zulauf. Mehr als 60 solcher Zusammenkünfte gibt es mittlerweile, vor fünf Jahren waren es die Hälfte.
Tinu ist seit acht Jahren dabei, besucht mehrmals pro Woche ein Treffen. Seit sieben Jahren ist er drogenfrei – zum ersten Mal seit er 17 ist. «Dank NA», sagt er.
Die erste Gruppe der anonymen Drogensüchtigen, wie man sie auch nennen kann, entstand bei uns vor 30 Jahren. Hervorgegangen ist sie aus den Anonymen Alkoholikern in den USA. Die Organisation ist offen für alle Substanz-Abhängigen – solange sie mit den Drogen aufhören. Totale Abstinenz ist die Bedingung. Man muss nicht drogenfrei zu den Treffen kommen, aber den Wunsch haben, es zu werden. Das gilt auch für Alkohol, Cannabis und Schlafmittel.
Abstinenz wird kontrovers diskutiert
Abstinenz ist ein Ansatz in der Suchthilfe. Der andere ist weniger dogmatisch. Er ist offen für Abhängige, die nicht abstinent leben können und wollen. Die nicht ohne die ambulante Drogenabgabe mit Heroin oder einem Ersatz wie Methadon auskommen. Welches der richtige Weg ist – darüber ist seit langem eine Kontroverse im Gang.
Diese hat der frühere Platzspitzarzt André Seidenberg kürzlich wieder befeuert. In einem SRF-Dokfilm über die NA verteufelt der den totalen Drogenverzicht. Gerade für Opiatabhängige funktioniere das nicht. Wegen der Rückfälle. Weil der entgiftete Körper den Stoff nicht mehr verträgt, würden sie schneller «an einer Überdosis sterben».
Seidenberg hat Erfahrung. In den 80ern und 90ern sah er auf dem Platzspitz, wie sich Hunderte zu Tode fixten, wie sie sich über gebrauchte Spritzen mit HIV infizierten. Er und andere Ärzte kämpften als Erste für eine kontrollierte Drogenabgabe. Und hatten Erfolg: 1993 durften sie in Zürich die ersten Versuche durchführen.
Das Konzept setzte sich durch. Die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss machte sich für weitere Versuche stark, heute ist die kontrollierte Drogenabgabe im Betäubungsmittelgesetz verankert. Heute beziehen in der Schweiz 1700 Abhängige Heroin, 15 700 Methadon. Letztere sind substituiert, wie man den Ersatz von Heroin in der Fachsprache nennt. Sie sind nicht mehr gezwungen, sich nach jedem Schuss sofort den nächsten zu organisieren. Zu stehlen, ihren Körper zu verkaufen oder selbst zu dealen. Sie müssen keine Angst mehr haben, an einer Überdosis zu sterben. Oder sich mit HIV anzustecken. Sie holen sich jeden Tag bei der Abgabestelle reinen Stoff, spritzen und fahren zur Arbeit. Im Idealfall.
Ärzte können die Heroinabhängigen substituieren – ihnen also ein Mittel geben, das ähnlich wirkt, aber weniger schädliche Langzeitfolgen hat als Heroin. Am bekanntesten ist das starke Schmerzmittel Methadon. Er verhindert die starken Entzugserscheinungen, die bei Heroin bereits acht Stunden nach der letzten Einnahme auftreten. Zusätzlich gespritztes Heroin kann seine Wirkung nicht entfalten, weil das Methadon die Rezeptoren im Gehirn bereits besetzt. Eine gleichzeitige Einnahme ist trotzdem gefährlich, weil es zum Atemstillstand kommen kann. Abhängig macht aber auch Methadon.
Ärzte können die Heroinabhängigen substituieren – ihnen also ein Mittel geben, das ähnlich wirkt, aber weniger schädliche Langzeitfolgen hat als Heroin. Am bekanntesten ist das starke Schmerzmittel Methadon. Er verhindert die starken Entzugserscheinungen, die bei Heroin bereits acht Stunden nach der letzten Einnahme auftreten. Zusätzlich gespritztes Heroin kann seine Wirkung nicht entfalten, weil das Methadon die Rezeptoren im Gehirn bereits besetzt. Eine gleichzeitige Einnahme ist trotzdem gefährlich, weil es zum Atemstillstand kommen kann. Abhängig macht aber auch Methadon.
Tinu regt sich über Seidenbergs Aussagen auf. «Es kann nicht sein, dass man den Abhängigen von vornherein jede Hoffnung auf ein drogenfreies Leben nimmt.» Er sei das beste Beispiel dafür, dass die NA auch für Opiatabhängige funktioniere. Er bezog über Jahre Heroin und später Opiatersatz wie Methadon. Nach einem Jahr bei den anonymen Süchtigen setzte er das Medikament ab.
«Ich lernte bei NA, wie ich ohne Drogen nicht nur überleben, sondern auch ein gutes Leben haben kann», sagt er. Geheilt ist er deshalb nicht. Sucht ist eine Krankheit und begleitet die Abhängigen ein Leben lang. Das zeigt ein Blick in ein NA-Meeting in Zürich.
Gruppentreffen sind für viele die letzte Hoffnung
«Ich bin süchtig» – sagt jeder, bevor er seine Erfahrungen teilt. Die 30 Menschen im Raum stammen aus allen Schichten der Gesellschaft. Sie erzählen vom Rentnerdasein, das öde geworden ist und Lust auf einen Drogen-Kick macht. Oder vom guten Job bei einer Bank, den man gerade wegen dem verdammten Kokain verloren hat. Drei Minuten Redezeit stehen jedem zu, der reden will. Auch drei Rückfälle sind Thema. Und keiner wird schief angesehen, keiner kommentiert.
Für viele hier sind die Treffen die letzte Hoffnung. Sie haben zahllose stationäre Therapieaufenthalte hinter sich – der übliche Weg, um von den harten Drogen loszukommen.
Noch in den 80ern pochten fast alle stationären Suchthilfeeinrichtungen auf totale Abstinenz. Heute nimmt über die Hälfte von ihnen auch Menschen auf, die mit einem Opiatersatz leben. So wie der Ulmenhof in Ottenbach ZH – die zweitälteste stationäre Institution in der Schweiz. Die Einrichtung hat sich auf abhängige Eltern mit Kindern oder Einzelpersonen spezialisiert. Zwölf Monate dauert ein Aufenthalt.
Stephan Germundson ist Geschäftsführer des Vereins Die Alternative, der den Ulmenhof betreibt. Seit fast 30 Jahren ist er in der Branche tätig und weiss: In den 70ern und 80ern nahmen sehr viele Suchende die Drogen, um sich selber zu verwirklichen. Um dem bürgerlichen Leben zu entfliehen. Heute sind es zumeist Menschen, die traumatisiert sind. Sie versuchen, mit den Substanzen ihr Leben zu bewältigen. «Meist wünschen sie sich ein stabiles, bürgerliches Leben – mit einer schönen Beziehung, Kindern, einer eigenen Wohnung und einem guten Job», sagt Germundson.
Abstinenz ist nicht für alle realisierbar
Die meisten wollten weg von den Drogen und weg vom Opiatersatz, sagt er. Aber Abstinenz sei nicht für alle realisierbar. Andere wiederum seien nicht bereit, auf den Rausch zu verzichten. «Dieser Wunsch ist zu respektieren.» Bei ihnen geht es darum, dass sie lernen welche Mittel sie möglichst risikoarm konsumieren können. Und welche Gefahren damit verbunden sind. Studien zeigen, dass nach stationären Therapien langfristig etwa ein Drittel dauerhaft abstinent lebt.
Heute will Tinu verzichten. Früher sah er das anders. Er wollte zwar von den harten Drogen wegkommen, die weichen wollte er sich aber nicht nehmen lassen. Er trank, kiffte – und endete irgendwann wieder an der Nadel. Auch die fünf stationären Therapien hatten keine dauerhafte Wirkung. Er konsumierte schon so lange, hatte nie länger einen Job – ihm fehlte die Erfahrung eines normalen Lebens ohne Sucht. Und er hatte kaum Menschen um sich, an denen er sich orientieren konnte. «Ich hatte das Gefühl, nirgends dazuzugehören.»
So ging es auch Michelle, Anfang vierzig. Noch vor ein paar Jahren arbeitete sie als Flight-Attendant, verbrachte die meiste Zeit mit ihren Arbeitskollegen. Gemeinsam steckten sie in einem «Strudel aus Apéros am Pool und Jetlagleben mit Alkohol zum Runterkommen», wie sie heute sagt. Dieser riss sie ab 30 in die Alkoholsucht. Dahinter verbarg sich ein Trauma.
Die Süchtigen fühlen sich in der Gruppe aufgehoben
Als Kind von Zeugen Jehovas bestand ihr Leben aus lauter Verboten. Weihnachten, Geburtstag – das gabs für sie nicht. Sie war immer anders, fühlte sich schon in der Schule einsam. Und als sie mit 18 wegen der Liebe zu einem Ungläubigen aus der Sekte ausstieg, brachen ihre Eltern mit ihr. Sie war alleine. Der Alkohol half ihr, die innere Leere zu füllen. «Ich legte meine Scheu ab und machte leichter neue Bekanntschaften.»
Nach fünf Alkoholentzügen und einer stationären Therapie hörte sie von anderen Süchtigen von den NA. Seit vier Jahren geht sie nun zu den Meetings. «Seitdem habe ich kein Verlangen mehr danach, zu trinken.» Auch wegen des Zwölf-Schritte-Programms, das Teil von NA ist. Bei dem es um die Abhängigen selbst und die Aufarbeitung ihrer Sucht geht.
Die Selbsthilfegruppe gab Tinu und Michelle Halt, wie sie sagen. «Du fühlst dich verstanden», sagt sie. «Es gibt immer jemanden im Raum, der das Gleiche durchgemacht hat.» Beide fanden Freunde dort. Menschen, die sie Tag und Nacht anrufen können. Das ist nach einem stationären Aufenthalt viel wert.
In der Suchtklinik Im Hasel in Gontenschwil AG finden regelmässig NA-Treffen statt. Chefarzt Thomas Lüddeckens hält sie für eine gute Ergänzung. Andere Suchtfachleute haben Vorbehalte. Wegen des spirituellen Touchs, den Gebeten am Anfang der Meetings zum Beispiel. Lüddeckens erlebt die Gruppe aber «nicht als missionarisch».
Thilo Beck hat andere Bedenken. Er ist Chefarzt von Arud, die Arbeitsgemeinschaft für einen risikoarmen Umgang mit Drogen, die Platzspitzarzt André Seidenberg mitaufbaute. Sie ist für ambulante Therapien und Opiatersatzabgaben verantwortlich. «Ich würde die NA gerne bei uns im Haus haben», sagt er. Die Bedingung: Er will sicher sein, dass die Betroffenen nicht unter Druck gesetzt werden, um jeden Preis und unabhängig von ihrer persönlichen Situation abstinent zu werden. Derzeit laufen Gespräche.
Kokain soll wie Alkohol gehandhabt werden
Dank der staatlichen Drogenabgabe, den stationären Therapien und Initiativen wie die Narcotics Anonymous hat man das Heroinproblem heute im Griff. Das gilt nicht in Bezug auf andere Drogen. Stichwort: Kokain. Es ist so verbreitet wie noch nie. Längst fordern Ärzte und Politiker, dass der «Staat den Konsum von Cannabis und Kokain reguliert», wie es alt Bundesrätin Ruth Dreifuss sagt, die der Weltkommission für Drogenpolitik vorsteht. Man dürfe das nicht mehr in kriminellen Händen lassen. Gegenüber dem SonntagsBlick Magazin betont sie zudem: «Beim Kokain sollten die Kriterien für den Zugang wesentlich strenger sein als für Cannabis.»
Für Chefarzt Thilo Beck steht fest: «In einem regulierten Markt kann man die Süchtigen besser therapieren.» Weil sie nicht mehr stigmatisiert sind und nicht mehr Angst vor Verfolgung haben müssen, suchen sie sich eher Hilfe.
Für Tinu ist eine Regulierung kein Thema. Sein Drogenkonsum war jeden Tag lebensgefährlich. Erst seit er drogenfrei ist und mit dem Zwölf-Schritte-Programm von NA arbeitet, hat er eine funktionierende Beziehung und einen erfüllenden Job. «Wenn es die NA nicht gegeben hätte, wäre ich heute tot.»
Chronologie der Drogenpolitik in der Schweiz
1970er
Aufkommen der offenen Drogenszenen in Zürich (Niederdorf, Platzspitz, Letten) und Bern (Kleine Schanze). In den 80ern auch in Basel (Kleinbasel).
1975
Eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes verbietet den Konsum von Cannabis. Allerdings kann bei Eigenkonsum von kleinen Mengen auf Strafverfolgung verzichtet werden.
1991
Der Bundesrat verfolgt die sogenannte Vier-Säulen-Strategie von Prävention, Therapie, Schadensverminderung und Repression als Mittelweg zwischen Repression und Freigabe. Das machte den Weg frei für die kontrollierte Drogenabgabe, die sich später über die Jahre etabliert.
1992
Schliessung Platzspitz, Verlagerung der Szene auf den Letten. Der Bundesrat bewilligt die kontrollierte Heroin-Abgabe an 250 Schwerstabhängige. Bis 1996 werden so bei über 1000 Abhängigen Versuche mit Heroin, Morphin und Methadon durchgeführt.
1995
Schliessung Szene beim Bahnhof Letten.
1997
Die von rechtsbürgerlichen Kreisen lancierte Volksinitiative «Jugend ohne Drogen», die eine repressive Drogenpolitik fordert, wird an der Urne verworfen.
1998
Die Volksinitiative «Droleg – Für eine vernünftige Drogenpolitik», die auf Drogenlegalisierung abzielt, wird verworfen.
2008
Eidgenössische Volksabstimmung über die Revision des Betäubungsmittelgesetzes. Die Vier-Säulen-Drogenpolitik wird gesetzlich verankert. Und die «Hanf-Initiative» für die Legalisierung wird abgelehnt.
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