Die Schweizer Schulhäuser stehen leer. Es sind Herbstferien. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet das eine Verschnaufpause von schreienden Kindern, pubertierenden Teenagern – aber vor allem von anstrengenden Eltern. Wer mit Lehrern redet, bekommt stets dasselbe zu hören: Das Mühsamste im Schulalltag sind nicht die Schüler, sondern die Eltern.
Wie angespannt die Situation ist, offenbart ein neues Papier des Dachverbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Auf 52 Seiten widmen sich die Autoren dem zunehmend schwierigen Verhältnis von Schulen, Lehrern und Eltern. Die Elternarbeit sei für die Pädagogen «deutlich anspruchsvoller und differenzierter geworden», lautet der Befund.
Der Leitfaden soll helfen, die Zusammenarbeit zu verbessern. Unter anderem erfahren die Lehrer anhand von Fallbeispielen aus der Praxis, wie sie in kritischen Momenten reagieren sollen. Zum Thema Promotions- und Selek-tionsentscheide heisst es beispielsweise: «In unlösbaren Konfliktsi-tuationen sollte die Schulleitung oder eine externe Beratung beigezogen werden.»
«Selbst Kleinigkeiten werden in Frage gestellt»
Sarah Knüsel (38), Präsidentin des Schulleiter-Verbandes des Kantons Zürich, bringt das Grundproblem auf den Punkt: «Viele Eltern meinen, dass sie ein Recht darauf haben, bei allem mitreden zu können, was in der Schule passiert.»
Schulleiter und Lehrer berichten unisono, dass sich Eltern immer stärker in den Unterricht einmischen. Manchmal würden sich die Eltern sogar zusammenschliessen, um gemeinsam Druck auf Lehrpersonen auszuüben.
«Selbst Kleinigkeiten werden in Frage gestellt», sagt Georges Raemy (60), Präsident des Schulleiter-Verbandes im Kanton Zug. Die einen Eltern seien gegen den Klassenausflug in den Wald. Andere beschwerten sich, weil der Geburtstag des Kindes in der Schule nicht angemessen gefeiert wurde. Und wieder andere seien unzufrieden mit dem Stundenplan.
Raemy: «Die Lehrer müssen sich immer besser erklären können. Die Kommunikation ist wichtiger denn je.» Der Schulleiter aus der Innerschweiz ist deshalb der Meinung, dass man diesen Bereich in der Lehrerausbildung ausbauen sollte.
Besonderes Konfliktpotenzial gibt es natürlich, wenn es darum geht, ob das Kind ans Gymnasium, in die Sekundar- oder Realschule kommt. Dann bleibt es nicht immer bei verbalen Auseinandersetzungen, sondern es wird teilweise sogar mit dem Anwalt gedroht.
Die Paragrafenreiterei hat in Schweizer Schulzimmern Einzug gehalten
In den allermeisten Fällen bleibt es zwar bei der Drohung. Die Paragrafenreiterei hat aber trotzdem Einzug gehalten in Schweizer Schulzimmern. Der Rechtsdienst des Volksschulamts des Kantons Zürich sei so gefragt wie nie, sagt Amtschefin Marion Völger (45) gegenüber SonntagsBlick: «Wir erhalten deutlich mehr Anfragen von Lehrern und Schulleitungen, aber auch von Eltern.» Aktuell bearbeitet der Zürcher Rechtsdienst rund 3000 Anfragen pro Jahr, etwa 400 davon von Eltern.
«Die Eltern wollen in der Regel wissen, was sie tun können, wenn sie mit der Schule ihrer Kinder nicht einer Meinung sind», so Völger. Lehrer und Schulleitungen wiederum wollten sich verge-wissern, dass sie rechtlich korrekt vorgehen, wenn sie gewisse Disziplinarmassnahmen ergreifen oder Probleme mit Eltern haben.
Lehrer sind heute darauf sensibilisiert, die wichtigsten Dinge im Schulalltag zu dokumentieren. Sie wissen, dass eine genaue Dokumentation notwendig ist, wenn es zu einem Rekurs kommen sollte.
Im neuen Leitfaden des Lehrerverbandes nehmen die rechtlichen Rahmenbedingungen ebenfalls viel Platz ein. Bei den Fallbeispielen aus der Praxis wird neben pädagogischen Überlegungen auch klar dargelegt, wie die juristische Situation aussieht.
«Die Leute haben weniger Respekt vor staatlichen Institutionen»
Die Anzahl Rekurse gegen Entscheidungen der Schule ist zwar stabil. Das dürfte aber nicht zuletzt daran liegen, dass Eltern – und vor allem deren Anwälte – wissen, dass sie vor Gericht schlechte Karten haben. Denn in den meisten Fällen stützen Richter die Entscheide der Schulen und Lehrer. Der Rechtsdienst des Kantons Zürich versucht den Eltern deshalb aufzuzeigen, dass eine einvernehmliche Lösung in der Regel für alle Beteiligten die nachhaltigste ist.
Doch was ist überhaupt der Grund dafür, dass die Anzahl von Problemeltern stetig zunimmt? Christian Hugi (38), Primarlehrer in der Stadt Zürich sowie Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands, hält es für ein gesellschaftliches Phänomen: «Heute haben die Leute weniger Respekt vor staatlichen Institutionen.»
Zudem fühlten sich viele unter Druck gesetzt durch die Globalisierung, die Digitalisierung sowie den beruflichen Konkurrenzkampf. «Die Eltern wollen sicherstellen, dass ihr Kind in dieser Welt bestehen kann», so Hugi.
In der Regel sind es gut situierte Eltern, die Druck machen – manchmal mit Erfolg. Hugi sieht dadurch die Chancengerechtigkeit gefährdet: «Bei Schülern, die aus gutem Hause kommen und ehrgeizige Eltern haben, sind die Chancen höher, dass sie ans Gymnasium kommen – obwohl sie schulisch nicht besser sind als Klassenkameraden aus tieferen Gesellschaftsschichten.»