Auf einen Blick
Seit einer fatalen Fehlbehandlung im Mai 2003 ist Ursula Lüthi halbseitig gelähmt und pflegebedürftig. Nun kommt das Verwaltungsgericht des Kantons Bern in einem Urteil zum Schluss: Wenn Ursula Lüthi im Inselspital «entsprechend dem damaligen Stand der medizinischen Wissenschaften rasch und sorgfältig untersucht worden» wäre […], «hätte sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keinen weiteren Schlaganfall erlitten». So lautet das Urteil vom Dezember 2024.
Bereits vor fünf Jahren berichtete der Beobachter über den Fall. Damals urteilte das Verwaltungsgericht zum ersten Mal gegen das Inselspital. Doch das Spital wehrt sich – bis heute.
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Der verhängnisvolle Tag
Der 17. Mai 2003 veränderte das Leben von Ursula Lüthi auf einen Schlag. Bei einem Ausflug am Murtensee spürte die damals 53-Jährige ihr linkes Bein plötzlich nicht mehr. Der Hausarzt schickte sie direkt in die Notfallabteilung des Inselspitals: Verdacht auf Schlaganfall.
Doch im Inselspital vergingen fast drei Stunden, bis die Frau neurologisch untersucht wurde. Und das ärztliche Fehlverhalten ging gleich weiter. Obschon nach einer Aufnahme mit dem Computertomografen (CT) eine «hochgradige Stenose» – also eine starke Verengung der inneren Halsschlagader oder sogar ein Verschluss – festgestellt wurde, kam es zu keinen weiteren Abklärungen und auch zu keiner Diagnose.
Wichtige Informationen nicht weitergegeben
Weil im Inselspital an diesem Abend angeblich keine Betten frei waren, wurde die Frau um ein Uhr nachts ins Regionalspital Münsingen verlegt. Doch es kam noch schlimmer: Das Inselspital liess das Regionalspital im Unwissen über den Zustand der Patientin. Es gab den Computertomografie-Befund den Arztkollegen in Münsingen nicht weiter.
Erst vier Jahre später erfuhr der Chefarzt von Münsingen davon, anlässlich einer Aussprache mit den Verantwortlichen der Insel. Darauf schrieb er in einer Stellungnahme: «Hätte ich diesen Befund bei der Verlegung in den Händen gehabt, hätten wir eine Übernahme ins Bezirksspital Münsingen aus medizinischen Gründen rundweg abgelehnt.»
Kompletter Schlaganfall und Lähmung
Nach der nächtlichen Verlegung ins Spital Münsingen erlitt Ursula Lüthi am darauffolgenden Vormittag einen kompletten Schlaganfall, ihre linke Körperseite ist seither vollständig gelähmt. Fast zehn Jahre lang versuchte sie, sich mit dem Inselspital und dessen Haftpflichtversicherung gütlich zu einigen. Erfolglos.
2012 forderte Ursula Lüthi schliesslich auf juristischem Weg 50’000 Franken Genugtuung vom Inselspital. Vier Jahre später – so lange brauchten die Spitalanwälte für eine Antwort – lehnte das Inselspital die Forderung per Verfügung ab.
«Nicht nach den Regeln der Kunst»
Ursula Lüthi focht den Entscheid vor Verwaltungsgericht an – und erhielt recht. Das Spital musste den Fall wegen «unvollständiger Abklärung des Sachverhalts» neu beurteilen. 2020 wies das Inselspital das Gesuch um eine Genugtuung schliesslich erneut ab.
Wieder gelangte die Patientin ans Verwaltungsgericht. Weil nun auch das Gericht noch ein Gutachten einholte, zog sich der Fall weiter in die Länge. Im Dezember 2024 kam nun das Gericht zu einem klaren Schluss: Die Ärzte am Inselspital hätten am fraglichen Tag im Mai 2003 die Diagnose «nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst bzw. gewissenhaft» vorgenommen und ihre Sorgfaltspflichten verletzt.
Jetzt auch noch vor Bundesgericht
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts besteht eindeutig ein direkter Zusammenhang zwischen der unterlassenen Behandlung und dem Schaden. Deshalb stehe Ursula Lüthi eine «angemessene finanzielle Genugtuung» zu.
Das Inselspital akzeptiert das Urteil nicht und zieht den Fall vor Bundesgericht, wie das bernische Verwaltungsgericht dem Beobachter bestätigt. Sollte sich das Bundesgericht hinter die Vorinstanz stellen, beginnt das ganze Prozedere von vorn: Das Inselspital müsste die Höhe der Entschädigung festsetzen, die anschliessend wiederum gerichtlich beurteilt werden könnte.
«Das kann weitere Jahre dauern»
Claude Brügger, Anwalt von Ursula Lüthi: «Sogar wenn das Bundesgericht den Entscheid stützt, kann es noch Jahre dauern, bis Frau Lüthi allenfalls von der Insel eine Entschädigung erhalten wird.»
Der Beobachter wollte vom Inselspital wissen, ob die vollumfängliche Ausschöpfung aller Rechtsmittel in Anbetracht der Situation gegenüber der heute 75-jährigen Patientin respektvoll sei. Insel-Verwaltungsratspräsident Bernhard Pulver, der sich zeitweise persönlich ins Verfahren eingeschaltet hatte, lässt sich so zitieren: «Wir verfolgen keine Verzögerungstaktik. Wir sind der Auffassung, keinen Behandlungsfehler begangen zu haben. Deshalb erachten wir den Entscheid des Verwaltungsgerichts als falsch und möchten ihn überprüfen lassen.»