In der Deutschschweiz gehören sie zum Stadtbild. Sie stehen an Strassenkreuzungen und vor Supermarktfilialen, viele unter ihnen bereits seit Jahren: die Verkäuferinnen und Verkäufer des roten Strassenmagazins Surprise. Eine treue Stammkundschaft bleibt regelmässig stehen und denkt dabei an die acht Franken in bar. Doch immer mehr laufen, «kein Bargeld» murmelnd, an ihnen vorbei. Eine Tendenz, die für das printbasierte Geschäftsmodell bedrohlich werden könnte.
Denn der non-profitorientierte Verein Surprise, der dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiert, macht den Hauptanteil seiner Einnahmen mit dem Strassenverkauf. So gingen im vergangenen Jahr 3,06 Millionen Franken der Gesamteinnahmen von 5,49 Millionen Franken auf den Heftverkauf zurück.
Dieser entwickelte sich zuletzt allerdings rückläufig: 2022 lag der Absatz 6,6 Prozent unter dem Vorjahr. Im letzten Geschäftsbericht zeigten sich die Herausgeberinnen des Schweizer Strassenmagazins denn auch besorgt über «sinkende Heftverkäufe» und zeitgleich «gestiegene und weiter steigende Produktionskosten».
Ein Grund dafür dürfte die abnehmende Bedeutung von Bargeld sein. Denn die Schweiz befindet sich im digitalen Wandel. Laut einer Studie der Schweizerischen Nationalbank (SNB) gewinnt das bargeldlose Zahlen an Bedeutung. So seien Debit- und Kreditkarten sowie Bezahl-Apps besonders dort beliebt, wo direkt vor Ort bezahlt werde.
Gerade jüngere Menschen nutzen der Umfrage zufolge vermehrt digitale Zahlsysteme. Auch Surprise-Kunden hätten den Wunsch nach Onlinezahlmöglichkeiten geäussert. Das gemeinnützige Unternehmen hat laut Surprise-Sprecher Nicolas Fux reagiert und arbeitet seit letztem Jahr mit Twint zusammen. Dies sei «eine Lösung, die unter Kunden etabliert ist», betonte Fux gegenüber der Nachrichtenagentur AWP.
Unter den selbstständig agierenden Verkäufer und Verkäuferinnen habe sich Twint aber erst wenig durchgesetzt. Denn diese müssen dafür ein Konto und eine Emailadresse oder eine Handynummer besitzen. Die meisten Verkäufer, darunter auch Obdachlose und Suchtbetroffene, setzen daher weiterhin auf die Variante «bar auf die Hand».
Für Surprise ist das grundsätzlich kein Problem. «Die meisten Kunden kennen ihre Verkäufer, die immer an den gleichen Orten stehen, und nehmen Bargeld mit», so Fux. Der Verein sehe sich daher nicht im unmittelbaren Zugzwang, das Bezahlmodell anzupassen.
Das Nachbarland Deutschland ist derweil ein Schritt weiter. Seit diesem Oktober können sozial Engagierte in deutschen Grossstädten Strassenmagazine nämlich über einen QR-Code erwerben. Neben einer Onlineversion des lokalen Strassenmagazins erhalten sie zusätzlich digitale Inhalte und Verlosungen, die auf die Gen Z zugeschnitten sind. Hinter dem Modell steckt die Berliner Plattform «Stread», die von einer gemeinnützigen Stiftung finanziert wird.
Stread-Chefredaktor Robert Hofmann, der vom Onlinemagazin Vice kommt, ist von diesem Modell überzeugt. «Viele Strassenzeitschriften haben sich bislang eher nicht an junge Menschen gerichtet», sagte er im Gespräch mit AWP. «Wenn Leute wirklich Bock haben auf ein Medium, sind sie auch bereit, dafür Geld auszugeben», glaubt er. Mittelfristig sei sein Ziel, Stread zu einem «coolen» Medium zu entwickeln, wonach Leute aktiv Ausschau halten würden auf der Strasse.
Das neuartige Modell bietet durchaus Potenzial: Denn durch den digitalen Vertrieb können nicht nur Kosten und Papier gespart, sondern kann auch die Auflage beliebig erhöht werden. «Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, die bestehende deutschlandweite Print-Auflage von rund 400'000 Exemplaren bis zum Jahr 2025 zu verdoppeln», so Stread. Damit würden die Strassenmagazine in Zusammenarbeit mit der Onlineplattform mehr Leute erreichen als die Bild-Zeitung.
Das Angebot von Stread sei dem Verein Surprise bekannt, sagt Fux von Surprise. Man pflege den Kontakt mit anderen deutschsprachigen Strassenmagazinen und stehe Änderungen grundsätzlich offen gegenüber.
Dennoch sehe Surprise aktuell keinen Grund, das Print-only-Modell mit einer Onlineversion, wie sie Stread anbietet, zu ergänzen. «Der Verkauf ist eine Form der sozialen Interaktion. Beim gedruckten Produkt findet dieser Austausch ausgiebiger statt», so der Surprise-Sprecher.
Der unabhängige Verein Surprise bietet seit 1998 Arbeitsmöglichkeiten für sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Er gehört dem internationalen Netzwerk für Strassenmagazine (INSP) an, das rund 100 Mitglieder aus über 30 Ländern zählt. Das Surprise-Magazin erscheint zweimal monatlich und wird von rund 500 Menschen in der Deutschschweiz vertrieben. 2022 wurden 501'046 Ausgaben verkauft.
Stread wird von der gemeinnützigen Stiftung Dojo Cares herausgegeben. Diese ist vor 10 Jahren aus der Berliner Werbeagentur Dojo entstanden und wird durch eine Sozialsteuer auf den Agenturdienstleistungen finanziert. Das digitale System von Stread wird aktuell unter anderem von Strassenmagazinen in Berlin, Frankfurt, Münster, Leipzig und Osnabrück genutzt. Insgesamt gibt es 22 Strassenmagazine in Deutschland. (SDA)