Herr Straubhaar, Sie sitzen seit Monaten im Homeoffice. Was fehlt Ihnen am meisten?
Thomas Straubhaar: Kreativität und Innovation ist Teamarbeit, sie entstehen durch Zufallsbegegnungen. Dafür gibt es den Ausdruck «Serendipity» – «der glückliche Zufall». Eines meiner Lieblingswörter. Wenn ich irgendein Buch lese, mit jemandem spreche, und das muss gar nichts mit dem eigenen Arbeitsthema zu tun haben, entsteht plötzlich ein Funke, ein Einfall, eine Inspiration. So wie es Newton erlebte, als er den Apfel herunterfallen sah. Durch die Uni zu gehen und kurz zu fragen, «Wie gehts, woran bist du gerade?» – das fehlt mir wahnsinnig.
Sie kritisierten öffentlich den ersten Lockdown. Die Situation hat sich verschärft, jetzt haben wir den zweiten. Was sagen Sie heute dazu?
Ich habe meine Meinung nicht geändert. Eine richtige Debatte über die Alternativen zu einem Lockdown fehlt völlig. Ich bin in keiner Weise ein Corona-Leugner, Corona ist schrecklich. Ich bin auch kein Verschwörungstheoretiker. Und trotzdem werde ich von meinen Gegnern in diese Ecken gestellt.
Wie lautet Ihre Alternative?
Die Massnahmen sind viel zu stark identisch auf die ganze Bevölkerung ausgerichtet und viel zu wenig spezifisch auf Menschen mit hohem Bedrohungsrisiko. Schon lange hätten Einkaufszentren ausschliesslich für Seniorinnen und Senioren eingerichtet werden müssen. Zutritt hätten nur sie und nur mit FFP2-Masken. Und transportiert würden sie exklusiv mit Shuttle-Bussen. Ich verstehe auch nicht, dass beim Datenschutz jetzt keine Abstriche gemacht werden. In diesen Zeiten!
Sprechen Sie von der Corona-Warn-App?
Ja. Es wäre mit ihr leicht möglich und dringend nötig, alle in der gesamten Eidgenossenschaft zu tracken, um Infektionswege nachzuzeichnen. Die Ämter übertragen die Zahlen teils noch immer von Hand in Formulare. Das in einer Zeit, in der bargeldlos durch Self-Scanning in der Migros eingekauft wird. Das ist absurd.
So absurd vielleicht nicht. Was wenn man jetzt den Datenschutz ausweitet und man später nicht mehr zurückkrebsen kann?
Das ist eine berechtigte Sorge. Wir geben aber jeden Tag über Zoom, Whatsapp, Facebook und eben auch beim Einkaufen in der Migros unfassbar viele Daten preis – ohne mit der Wimper zu zucken. Datenschutz ist wichtig, aber momentan ist der Schutz vor Viren doch viel wichtiger!
Ihre Meinung hat in Deutschland Gewicht. Sie werden auch angefeindet. Wie weit geht die Wut?
Diese geht relativ weit. Aber ich möchte das nicht gross thematisieren.
Warum nicht?
Solche Reaktionen kommen von einzelnen notorischen Pöblern. Ich möchte denen nicht zu viel Gewicht geben.
Beunruhigen Sie die Anfeindungen?
Nein. Die organisierten Pöbeleien machen mir mehr Sorgen. Kolleginnen und Kollegen in der Politik können sich heute nicht mehr so frei äussern wie früher. Sie werden sonst von einem Mob shitstormmässig weggespült. Manche erhalten sogar Morddrohungen. Eine ähnliche Entwicklung sehe ich in abgeschwächter Weise auch bei mir.
Aus welcher politischen Ecke stammt dieser Mob?
Aus allen Schichten. Das ist keine Frage von links oder rechts, sondern ein Zeitgeistphänomen.
Was sind das für Menschen?
Menschen, die das Gefühl haben, nicht mehr mithalten zu können. Sie fühlen sich fremd in der heutigen Gesellschaft und haben nichts mehr zu verlieren.
So fühlen sich wegen der Pandemie einige. Was kommt da auf die Gesellschaft zu?
Corona wird die Polarisierung verschärfen. Die Ärmeren werden jetzt härter getroffen als die Gutsituierten. Eine Professorin kann fürs Homeschooling jedem ihrer Kinder einen Laptop kaufen. Eine mittellose Familie hat vielleicht nur das Smartphone des Vaters. Und jetzt kümmern sich vor allem wieder die Frauen um die Kinder, die Männer arbeiten eher normal weiter. Die Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt einen Rückschlag erfahren.
Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass gerade systemrelevante Jobs, die von Frauen ausgeführt werden, schlecht bezahlt sind.
Ja, das stimmt. Für junge Leute ist der Pflegebereich nicht attraktiv. Das Gleiche gilt aber auch für Jobs bei Polizei, Notfall- oder Wachdiensten. Wir sollten in Erinnerung behalten, wie dankbar wir den Pflegekräften waren, als die Corona-Krise uns am meisten Angst machte. Wie wir alle für sie klatschten. Jetzt dürfen wir nicht zum Status quo ante schlecht bezahlter Jobs zurückkehren. Sonst schlittern wir in einen Dienstleistungsnotstand.
Warum sind die Berufe schlecht bezahlt?
Unser Entlohnungssystem stammt aus der Industriezeit. Die Löhne steigen nur so stark, wie die Produktivität steigt. Eine Fabrik kann Abläufe optimieren und mit Maschinen Menschen produktiver machen. Eine Lehrerin kann nicht produktiver werden. Es lassen sich zwar doppelt so viele Kinder in eine Klasse stecken, aber die lernen dann nur noch halb so viel.
Wie liesse sich das ändern?
Es braucht einen Systemwechsel. Hin zum bedingungslosen Grundeinkommen zum Beispiel.
Inwiefern würde das jetzt unsere Probleme lösen?
Es wird keine paradiesischen Zustände herbeizaubern. Aber es macht möglich, dass für alle die Existenz gesichert ist. Und Arbeitnehmerinnen könnten zu Jobs Nein sagen, wenn die Bedingungen nicht stimmen. Heute geht das nicht. In dem Moment, in dem eine RAV-Bezügerin Nein sagt, muss sie damit rechnen, keine sozialstaatliche Unterstützung mehr zu bekommen.
Wer würde dann WCs putzen oder andere unbeliebte Arbeiten verrichten?
Komplett aufhören zu arbeiten, würde kaum jemand. Das zeigen die Rentnerinnen und Rentner. Die haben heute schon ein Grundeinkommen (Anm. d. Red: die AHV). Fragen Sie die mal, da sagen viele, sie wollten sich weiter betätigen.
Auch die Rentner stürzen sich nicht auf Klo-Reinigungsjobs.
Sie irren sich. Klar, es ist ein unattraktiver Job. Aber gerade deshalb wären die Firmen gezwungen, diese Arbeit anständiger zu bezahlen und die Menschen, die das erledigen, besser zu behandeln. Würdevoll. Sonst fänden sie niemanden. In unserer alternden Gesellschaft werden wir Massen von Leuten brauchen, die es nicht unappetitlich finden werden, anderen beim Essen oder beim Toilettengang zu helfen. Wir müssen unser Bild in den Köpfen ändern.
Bisher war das bedingungslose Grundeinkommen nicht mehrheitsfähig. Warum sollte das jetzt plötzlich anders sein?
Kosmetiksalonbesitzerinnen, Gastronomen und andere Selbständige haben jetzt auf brutalste Weise erleben müssen, dass sie an sich alles richtig gemacht haben. Dass sie alle wirtschaftlichen Bedingungen erfüllt haben und trotzdem von einem Tag auf den anderen vor einem Schuldenberg stehen. Das ist erst die erste Gruppe, die das erlebt. Künftig werden das viele junge Leute erfahren, denen heute gesagt wird: Werde Informatikerin oder Fachkraft für irgendetwas Spezielles! Und von einem Jahr aufs andere wird dann künstliche Intelligenz im Banken- oder Versicherungswesen ihre Berufsaussichten zunichtemachen.
2016 scheiterte die Volksinitiative zum Grundeinkommen. Was stimmten Sie?
Ich war dagegen.
Und warum?
Die Höhe des Grundeinkommens und seine Finanzierung haben die Initianten komplett offen gelassen. Und überhaupt nicht gefallen hat mir, dass nie klargemacht wurde, ob das den bisherigen Sozialstaat ersetzt oder zusätzlich zu unseren Sozialwerken dazukommen soll. Ein Grundeinkommen lässt sich nicht auf das bestehende Sozialsystem satteln.
Sind Sie ein Träumer?
Nein. Beim Grundeinkommen fällt oft das Wort Utopie. Das ist es nicht. Es ist ein optimistisches Zukunftsmodell. Das fehlt uns heute. Wir haben zu viele Dystopien – also Schreckensszenarien. Junge Menschen bekommen mehr als je zuvor zu hören, dass alles den Bach runtergeht. Wir müssen der kommenden Generation mehr bieten als den Weltuntergang.
Sie leben schon lange in Deutschland, haben beide Pässe. Spüren Sie den Straubhaar Thomas aus Unterseen im Berner Oberland noch?
Ja klar, jeden Tag. Ich habe eine gespaltene kulturelle Identität entwickelt. Meine Schweizer Wurzeln machen mich bodenständig, pragmatisch und überzeugt davon, dass Veränderungen von unten nach oben und nicht umgekehrt geschehen müssen.
Und wie zeigt sich Ihre deutsche Identität?
Freude zeigen zu können, wenn mein Team im Fussball in der Tabelle auch mal ganz zuoberst steht. Und mein Umgang mit Medien. Meine Aussagen sind direkter, ruppiger geworden. Ich bin aber immer noch zu 90 Prozent Schweizer.
Wie kommt das in Hamburg an?
Die Schweiz geniesst in Norddeutschland ein über alle Masse hohes Ansehen. Als Schweizer habe ich einen Bonus. Selbst nach über dreissig Jahren spreche ich immer noch ein schlechtes Hochdeutsch. In Deutschland wird Dialekt sonst als albern abgewertet. Bei mir aber finden es viele schön, weil es sie an Urlaub und gute Zeiten erinnert, sagen sie. Hier in Hamburg verstehen die Leute nicht, wieso ich nicht längst wieder ins Berner Oberland gezogen bin. Dabei ist doch die Schweiz meine Heimat, Deutschland aber mein Zuhause.
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