Die zierliche Rentnerin Miriam Z.* (77) spaziert in Horgen ZH in Richtung Zürichsee, als ihr Dragica B.* (34) mit ihrem Rottweiler Slobo an der Leine, aber ohne Maulkorb, entgegenkommt. Die Seniorin ist bereits ein paar Schritte vom Hund entfernt, als dieser ihr plötzlich in den Rücken springt. Miriam Z. stürzt zu Boden, beim Aufprall verliert sie das Bewusstsein. Der Rottweiler beisst auf sein Opfer ein.
Irgendwann lässt das Tier von der Frau ab. Statt zu helfen, flüchtet die Halterin mit ihrem Hund. Dafür müssen sie und ihr Mann Radan B.* (35), der Besitzer des Hundes, sich ab Dienstag vor dem Bezirksgericht Horgen ZH verantworten.
Freiheitsstrafe und Landesverweis
Die Staatsanwältin fordert für Dragica B. wegen schwerer Körperverletzung und Unterlassung der Nothilfe eine bedingte Freiheitsstrafe von 24 Monaten und einen Landesverweis von sieben Jahren. Radan B. steht wegen schwerer vorsätzlicher Körperverletzung sowie Tierquälerei vor Gericht. Ihm droht eine bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten.
Dass Miriam Z. die Attacke am 14. Oktober 2019 überlebt hat, war reines Glück. Laut Anklage erlitt die Rentnerin zahlreiche schwere Bissverletzungen. Im Gesicht beim rechten Jochbein und am linken Ohr, am Rücken links der Wirbelsäule, an den linken und rechten Ober- und Unterarmen und am Nacken. Dazu kommen viele oberflächliche Verletzungen an den Beinen.
Mehrere Bisse lagen in der Nähe von wichtigen Blutgefässen am Hals. Noch zweieinhalb Jahre nach der Attacke leidet die Rentnerin an Todesangst, wenn sie die Wohnung verlässt oder frei laufenden Hunden begegnet. In Folge des Sturzes hat sie wegen einer Hirnblutung noch heute starke Kopfschmerzen.
Anwohnerin rettet das schwer verletzte Opfer
Der härteste Vorwurf gegen Dragica B. ist ihr Verhalten nach der Attacke. Statt der verletzten Rentnerin zu helfen oder eine Notrufnummer zu wählen, packt sie laut Anklage den Hund und geht unverzüglich nach Hause. Die verletzte Rentnerin lässt sie am Boden liegen.
Gerettet wird die schwer verletzte Frau von einer Anwohnerin, mit der das Opfer noch heute Kontakt hat. Vor dem Prozess spricht Miriam Z. auf Anweisung ihrer Anwältin nicht über die Attacke und die Rettung. Auch der Hundebesitzer und seine Frau haben auf Anfragen von Blick nicht geantwortet. Der Rottweiler wurde mittlerweile eingeschläfert.
Nicht die erste Attacke
Sicher aber ist, dass mit Slobo vieles falsch gelaufen ist. Laut Anklageschrift hat der Hund schon vor der Attacke in Horgen Menschen angegriffen und gebissen. Neben dem Besitzerehepaar traf es auch eine Freundin der Familie und eine Pflegerin im Tierheim. Ein weiterer Angriff fand fünf Monate vor dem Angriff auf Miriam Z. statt. Slobo attackierte auf dem Horgenberg einen Hund. Die Besitzerin wurde zu Boden gerissen und Slobo schnappte nach ihr. Nur, weil er einen Maulkorb trug, kam es nicht zu schlimmeren Verletzungen.
Ein paar Monate vor der Attacke in Horgen musste Slobo zum Wesenstest beim Experten Hans Schlegel. Er arbeitet seit 30 Jahren als Polizeihunde- und Rettungshundefachexperte. Bei Slobo sah er Handlungsbedarf: «Ich sah ein sehr hohes Gefährdungspotenzial, eine tickende Zeitbombe. Es war klar, dass, wenn die Resozialisierung fehlschlägt, der Hund eingeschläfert werden muss», schreibt er auf Blick-Anfrage.
Termin beim Tierarzt war schon gebucht
Bald nach dem Gespräch habe sich Dragica B. noch einmal gemeldet. Wieder hatte Slobo einen Menschen angegriffen. Schlegel: «Wir entschieden zusammen, aufgrund der Unberechenbarkeit und der Heftigkeit der Bissverletzungen, den Hund einschläfern zu lassen», so der Experte. Er habe bereits am gleichen Tag einen Termin beim Tierarzt abgemacht, aber Dragica B. sei nicht aufgetaucht.
Stattdessen brachte das Ehepaar den Rottweiler zur Resozialisierung ins Ausland. Auf dem Youtube-Kanal einer deutschen Hundetrainerin in Ungarn wird die Behandlung von Slobo noch immer als positives Beispiel aufgeführt – auch wenn er direkt nach der Heimkehr in die Schweiz eine fremde Spaziergängerin angegriffen und schwer verletzt hat.
* Namen geändert
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