Spiritualität bis ins Spital
Sie betet für ihre Patienten

Heiler mit geheimen Segenssprüchen sind in der Romandie gefragt – seit der Pandemie umso mehr. Im Wallis wendet eine Ärztin ihre Gebete selbst im Krankenhaus an.
Publiziert: 25.12.2022 um 15:12 Uhr
|
Aktualisiert: 25.12.2022 um 20:04 Uhr
1/5
Eine welsche Tradition: Manche Romands setzen bei gesundheitlichen Leiden auf spirituelle Hilfe.
Foto: plainpicture/Design Pics
Blick_Portrait_1246.JPG
Camille KündigRedaktorin SonntagsBlick

Die Schweiz schnieft und hustet. Während sich viele mit Pülverchen und Mittelchen über Wasser halten, setzen manche auf spirituelle Hilfe. In der Romandie etwa werden sogenannte Faiseurs de secret angerufen, Heiltätige, die mit einem geheimen Gebet aus der Ferne helfen sollen. Gratis, denn sie dürfen laut der Tradition kein Honorar verlangen.

SonntagsBlick hat bei mehr als 30 Faiseurs de secret nachgefragt. Die meisten berichten: Ihre Telefonleitungen laufen heiss – sie erhalten zurzeit bis zu 40 Anrufe pro Tag. «Seit der Pandemie melden sich viele ältere Menschen, die um ihre gesundheitliche Zukunft fürchten und total isoliert leben», sagt die Freiburger Heilerin Marie-Christine Vaucher.
Anders als Freikirchen, die aktuell en masse auf den Strassen mit Heilungsversprechen werben (SonntagsBlick berichtete), handelt es sich beim «secret» (Geheimnis) um ein Stück Kulturerbe, das auf der Unesco-Liste der lebendigen Schweizer Traditionen steht.

Kurze Segensformel mit religiösem Gehalt

Das «Geheimnis» darf nur auf Vertrauensbasis weitergegeben werden und nur die Eingeweihten wissen, woraus es besteht. Es handelt sich vermutlich um eine kurze Segensformel mit religiösem Gehalt, die verschiedene Krankheiten und Verletzungen lindern und heilen soll.

Obwohl die Praxis keiner wissenschaftlichen Erklärung standhält, hat sie in der französischsprachigen Schweiz Beständigkeit in allen Gesellschafts- und Altersschichten. Nach dem Prinzip: Es kann ja nicht schaden. Sogar Krankenhäuser sind nicht abgeneigt. Das Spital Freiburg, die Hirslanden-Kliniken in Lausanne VD und Genf sowie die Onkologie-Abteilung des interkantonalen Spitals in Payerne VD, halten für Patienten Telefonnummern von Gebetsheilern bereit, sortiert nach den Leiden, die sie behandeln. Das Lausanner Universitätsspital CHUV bestätigt, für spezielle Fälle und je nach Situation Gebetsheiler aufzubieten.

Das Spital Wallis in Sitten geht noch einen Schritt weiter und unterstützt die Integration von verschiedenen Formen von Pflege und Medizin, wie Sprecherin Célia Clavien berichtet: «Gerade bei Fällen von Long Covid, wo die Wissenschaft an ihre Grenzen stösst, kann dies eine gute Option sein.» Die Assistenzärztin Florence Sierro-Müller begleitet ihre Patienten, sofern sie es wünschen, neben den Mitteln der Schulmedizin mit den Heilsprüchen. Sie wendet das «secret» meist in der Palliativpflege und je nach Fall bei Schmerzen oder Verbrennungen an. Auch privat nutzt sie es: «Meine Schwiegermutter packte aus Versehen mit blossen Händen ein Blech im heissen Ofen. Sie hielt ihre Hand unter kaltes Wasser und rief mich an – am nächsten Tag hatte sie nicht einmal Blasen.»

Placeboeffekt als Erklärung

Das «secret» stehe in keinerlei Widerspruch zu ihrem Doktortitel, sagt Sierro-Müller. Sie betont, dass die Schulmedizin nicht auf alle Fragen eine Antwort habe und schlägt das Gebetsheilen als Ergänzung, nie als Ersatz für eine Behandlung vor: «Auch wenn ich ein Gebet zur Schmerzlinderung spreche, gebe ich dem Patienten bei Bedarf Morphin.»
Verfechter des «secret» vermuten, dass beim Aussprechen der Gebete der Stresslevel der Patienten sinke, was positive chemische und hormonelle Mechanismen in Gang setzt. Eine mögliche Erklärung ist der Placeboeffekt, der gerade bei Schmerzen nachgewiesen werden kann.

Diesseits des Röstigrabens zeigt man sich dennoch zurückhaltend. Philippe Luchsinger, Präsident des Schweizer Haus- und Kinderärzteverbands sagt: «Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie man gesundheitliche Probleme angehen kann. Weil Untersuchungen zu diesen alternativen Methoden fehlen, können wir auch nicht beurteilen, ob sie mehr schaden oder mehr nützen.»

Fehler gefunden? Jetzt melden