Plötzlich gibt es Tage, an denen in Italien kein einziger neuer Flüchtling eintrifft. Tage, an denen weder auf Sizilien noch an der Küste von Kalabrien oder Kampanien Boote voller Migranten landen. Eine Trendwende!
Bis vor wenigen Wochen kamen täglich Hunderte übers Mittelmeer. Seit Mitte Juli aber sinkt die Zahl markant – obwohl die See im Sommer ruhig ist.
Der Rückgang ist kein Zufall. Die libysche Küstenwache hat ihren Einsatz im Mittelmeer massiv ausgeweitet. Unter Protesten von Menschenrechtlern vertreiben mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten die Schiffe der Hilfsorganisationen und zwingen Flüchtlinge in überfüllte libysche Lager zurück. Das Mittelmeer wird zur Sperrzone.
Eine Million Franken vom Staatssekretariat für Migration
Auch die Schweiz macht mit. Im Hintergrund hilft der Bund dabei, die libysche Küstenwache aufzurüsten. Das Staatssekretariat für Migration (Sem) hat dafür eine Million Franken an die Internationale Organisation für Migration überwiesen. Die verwendet das Geld, um libysche Küstenwächter auszubilden und mit Material für die Flüchtlingsabwehr auszustatten: Schwimmwesten, Taschenlampen, Erste-Hilfe-Sets.
Auch die EU hat für den libyschen Grenzschutz Mittel bereitgestellt, insgesamt 46 Millionen Euro. Sem-Sprecherin Emmanuelle Jaquet von Sury sagt: «Die Unterstützung zielt darauf ab, eine Professionalisierung der Arbeit zu erreichen und menschenrechtskonforme Standards zu verankern.»
Die Kooperation mit der Küstenwache von Libyen ist hoch umstritten. Hilfsorganisationen bezichtigen die nordafrikanischen Grenzschützer der Korruption, werfen ihnen Menschenrechtsverletzungen und Verstösse gegen das Völkerrecht vor.
In den libyschen Lagern herrschen prekäre Verhältnisse
Küstenwächter holen Flüchtlinge häufig mit Gewalt aus den Schlepperbooten und bringen sie zurück nach Libyen. In den Lagern herrschen prekäre Verhältnisse, Hilfsorganisationen machen seit längerem darauf aufmerksam, dass Vergewaltigungen, Folter und Zwangsarbeit dort an der Tagesordnung sind. Der deutsche Reporter und Afrika-Experte Michael Obert war als einer von wenigen unabhängigen Beobachtern vor Ort. Er sagt: «Nie in meinem Leben habe ich so schlimme Zustände gesehen wie in diesen Lagern. Libyen ist die Hölle!»
Das Land gilt als «Failed State», als gescheiterter Staat. Die Regierung der Nationalen Einheit, auf die sich Europa stützt, hat kaum Kontrolle über Libyen. Hunderte militante Gruppen bekämpfen einander in einem blutigen Bürgerkrieg; Clan-, Stammes- und Glaubensgrenzen bilden die Fronten.
Warlords und kriminelle Banden
Laut Obert werden Teile der Küstenwache von Warlords geführt, den Kommandierenden bewaffneter Milizen. Europa müsse sich im Klaren darüber sein, mit wem es da zusammenspanne – mit gewalttätigen Banden. «Dass die Schweiz diese Küstenwächter stärkt, ist fatal und macht die Situation für die Flüchtlinge nur noch gefährlicher.»
Auch der Schweizer Nordafrika-Kenner Beat Stauffer hält die Schweizer Hilfe für heikel: «Die Zusammenarbeit ist nicht vereinbar mit humanitären europäischen Standards.» Die libysche Küstenwache sei zurzeit «völlig unberechenbar». Stauffer warnt: «Das ist keine organisierte staatliche Behörde.» Niemand wisse, wer da was mache.
Das vom Bund finanzierte Projekt der Internationalen Organisation für Migration läuft eineinhalb Jahre. Danach will das Sem entscheiden, ob die Unterstützung verlängert werden soll.
Derweil baut die Schweiz auch anderswo an der Festung Europa mit. So hat der Bund Tunesien 40 Fingerabdruck-Lesegeräte im Wert von 245'000 Franken offeriert. Ziel ist eine nationale Datenbank aller Bürger. Zudem sind Schweizer Experten wiederholt nach Afrika gereist, um tunesische Grenzwächter zu trainieren.
Das Mittelmeer wird für Flüchtlinge mehr und mehr zur Sperrzone. Das hat direkte Auswirkungen auf die Schweiz: Im Juli wurden weniger als halb so viele Migranten bei der illegalen Einreise aufgegriffen wie im Vorjahresmonat. Auch die Zahl der Asylgesuche ging stark zurück.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht die Entwicklung sehr kritisch. Das rabiate Vorgehen der libyschen Küstenwache und ihrer Partner führe dazu, dass die Schlepper immer höhere Preise verlangten, sagt Constantin Hruschka (47), Leiter der Abteilung Protection. So würden es nur noch diejenigen Menschen in die Schweiz schaffen, die mehr Geld haben – unabhängig von ihrem Schutzstatus.
«EU und die Schweiz könnten mehr humanitäre Visa erteilen»
Hruschka ist überzeugt: Mit der indirekten Beteiligung an den Rückschaffungen breche nicht nur die EU das Völkerrecht, sondern auch die Schweiz. «Sie ist Teil der Grenzschutzagentur Frontex und damit mitverantwortlich für die Zusammenarbeit mit den libyschen Milizen», sagt Hruschka.
Der Flüchtlingsexperte fordert Europa auf, aktiv zu werden. «Die EU und die Schweiz könnten mehr humanitäre Visa erteilen», sagt er. Diese erlauben es Migranten, in die Schweiz zu reisen, um dort ein Asylgesuch zu stellen. Das ist die Alternative zum 2012 abgeschafften Botschaftsasyl, das ermöglichte, auch ausserhalb der Schweiz ein Gesuch einzureichen. Humanitäre Visa werden demgegenüber restriktiver gehandhabt.
Auch Politiker sind der Meinung, dass die Schweiz nicht tatenlos zusehen dürfe. Da die Schweiz ihre Asylpolitik mit jener der EU koordiniere, stehe man genauso wie sie in der Verantwortung, sagt SP-Nationalrätin Silvia Schenker (63, BS). «Wir müssen uns über die Parteigrenzen hinweg überlegen, ob angesichts der dramatischen Lage nicht zusätzliche Massnahmen notwendig sind», sagt sie.
Linke diskutieren über Wiedereinführung des Botschaftsasyls
Grünen-Fraktionspräsident Balthasar Glättli (45) pflichtet ihr bei: «Die Schweiz kann und muss mehr tun.» Eine Option, die Grüne wie SPler diskutieren, ist die Wiedereinführung des Botschaftsasyls. Selbst bürgerliche Politiker fassen diese Option ins Auge. FDP-Nationalrat Kurt Fluri (62, SO) sagt: «Das Botschaftsasyl wäre grundsätzlich das richtige Mittel, um die Schlepperei zu verhindern.» Allerdings könne es die Schweiz nur einführen, wenn die EU den ersten Schritt mache. «Sonst würden unsere Botschaften überrannt.»
Die Möglichkeit, sich für ein koordiniertes Vorgehen starkzumachen, hätte die Schweiz möglicherweise schon bald. Bundesrätin Simonetta Sommaruga (57) hat sich bei einem Ministertreffen in Tunesien jüngst dazu bereit erklärt, den nächsten Gipfel der Kontaktgruppe in der Schweiz zu organisieren. Mitglieder der Gruppe sind nebst Libyen auch Deutschland und Frankreich.
Viele Bürgerliche sehen keinen Handlungsbedarf
Die Grünen wollen derweil, so Glättli, die Möglichkeiten ausloten, wie man «endlich auch eine Mehrheit des Parlaments» davon überzeugen könne, zu handeln. Denn viele Bürgerliche sehen derzeit gar keinen Handlungsbedarf – so auch CVP-Nationalrätin Kathy Riklin (64, ZH). «So tragisch es ist», meint sie: «Wir können nicht ganz Afrika aufnehmen.»
Das Mittelmeer wird für Flüchtlinge mehr und mehr zur Sperrzone. Das hat direkte Auswirkungen auf die Schweiz: Im Juli wurden weniger als halb so viele Migranten bei der illegalen Einreise aufgegriffen wie im Vorjahresmonat. Auch die Zahl der Asylgesuche ging stark zurück.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht die Entwicklung sehr kritisch. Das rabiate Vorgehen der libyschen Küstenwache und ihrer Partner führe dazu, dass die Schlepper immer höhere Preise verlangten, sagt Constantin Hruschka (47), Leiter der Abteilung Protection. So würden es nur noch diejenigen Menschen in die Schweiz schaffen, die mehr Geld haben – unabhängig von ihrem Schutzstatus.
«EU und die Schweiz könnten mehr humanitäre Visa erteilen»
Hruschka ist überzeugt: Mit der indirekten Beteiligung an den Rückschaffungen breche nicht nur die EU das Völkerrecht, sondern auch die Schweiz. «Sie ist Teil der Grenzschutzagentur Frontex und damit mitverantwortlich für die Zusammenarbeit mit den libyschen Milizen», sagt Hruschka.
Der Flüchtlingsexperte fordert Europa auf, aktiv zu werden. «Die EU und die Schweiz könnten mehr humanitäre Visa erteilen», sagt er. Diese erlauben es Migranten, in die Schweiz zu reisen, um dort ein Asylgesuch zu stellen. Das ist die Alternative zum 2012 abgeschafften Botschaftsasyl, das ermöglichte, auch ausserhalb der Schweiz ein Gesuch einzureichen. Humanitäre Visa werden demgegenüber restriktiver gehandhabt.
Auch Politiker sind der Meinung, dass die Schweiz nicht tatenlos zusehen dürfe. Da die Schweiz ihre Asylpolitik mit jener der EU koordiniere, stehe man genauso wie sie in der Verantwortung, sagt SP-Nationalrätin Silvia Schenker (63, BS). «Wir müssen uns über die Parteigrenzen hinweg überlegen, ob angesichts der dramatischen Lage nicht zusätzliche Massnahmen notwendig sind», sagt sie.
Linke diskutieren über Wiedereinführung des Botschaftsasyls
Grünen-Fraktionspräsident Balthasar Glättli (45) pflichtet ihr bei: «Die Schweiz kann und muss mehr tun.» Eine Option, die Grüne wie SPler diskutieren, ist die Wiedereinführung des Botschaftsasyls. Selbst bürgerliche Politiker fassen diese Option ins Auge. FDP-Nationalrat Kurt Fluri (62, SO) sagt: «Das Botschaftsasyl wäre grundsätzlich das richtige Mittel, um die Schlepperei zu verhindern.» Allerdings könne es die Schweiz nur einführen, wenn die EU den ersten Schritt mache. «Sonst würden unsere Botschaften überrannt.»
Die Möglichkeit, sich für ein koordiniertes Vorgehen starkzumachen, hätte die Schweiz möglicherweise schon bald. Bundesrätin Simonetta Sommaruga (57) hat sich bei einem Ministertreffen in Tunesien jüngst dazu bereit erklärt, den nächsten Gipfel der Kontaktgruppe in der Schweiz zu organisieren. Mitglieder der Gruppe sind nebst Libyen auch Deutschland und Frankreich.
Viele Bürgerliche sehen keinen Handlungsbedarf
Die Grünen wollen derweil, so Glättli, die Möglichkeiten ausloten, wie man «endlich auch eine Mehrheit des Parlaments» davon überzeugen könne, zu handeln. Denn viele Bürgerliche sehen derzeit gar keinen Handlungsbedarf – so auch CVP-Nationalrätin Kathy Riklin (64, ZH). «So tragisch es ist», meint sie: «Wir können nicht ganz Afrika aufnehmen.»