Sparen bei den Kleinsten
Bund doktert an Kindermedizin herum

Die Sparmassnahmen von Gesundheitsminister Alain Berset (45) bedrohen die Existenz von Kinderpermanencen. Nun regt sich Widerstand.
Publiziert: 11.06.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2018 um 21:06 Uhr
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Petros Ioannou ist Arzt in der Zürcher Kinderpermanence Swiss Medi Kids.
Foto: Thomas Meier
Benno Tuchschmid

Auf dem Flur ist es still. Doch hinter der Tür des Behandlungszimmers kämpft Dr. Petros Ioannou (39) um das Leben ­eines kleinen Patienten. Das Baby ringt mit dem Tod.

Der vor 14 Tagen geborene Säugling kam mit einer schweren Blutvergiftung in die Kinderpermanence Zürich. Jetzt muss ihm der Arzt einen künstlichen Zugang zu den Atemwegen legen, damit das Baby zu Sauerstoff kommt. Jede Sekunde zählt.

Nach mehr als 30 Minuten hat Dr. Ioannou den Tod besiegt – das Kind lebt. Als er aus dem Behandlungszimmer tritt, zeichnen sich Schweissflecken auf seinem blauen Polohemd ab.

Wie lange in der vierten Etage über dem Bahnhofplatz in Zürich noch Kinderleben gerettet werden, entscheiden Gesundheitsbeamte in Berner Bundesbüros. Es sieht nicht gut aus.

Komplexes Vertragssystem

Die geplante Streichung der Notfallpauschale bereitet ihr schlaflose Nächte: Kinderpermanence-CEO Katja Berlinger mit Kinderarzt Petros Ioannou.
Foto: Thomas Meier

Der Bund muss sparen im Gesundheitswesen. 700 Millionen Franken, wenn es nach dem Bundesrat geht. Die Kosten laufen seit Jahren aus dem Ruder. Für 2018 prognostizieren Experten der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich 82,2 Milliarden Franken.

Gesundheitsminister Alain Berset (45, SP) will deshalb die Tarmed-Tarife anpassen. Das komplexe Vertragssystem regelt, wie viel Ärzte in der Schweiz für ambulante Behandlungen berechnen dürfen.

Eine der Sparmassnahmen könnte besonders dramatische Auswirkungen haben: Die geplante Streichung der Notfallpauschale. Sie bereitet auch Ioannous Chefin schlaflose Nächte.

Katja Berlinger (42) ist CEO der privaten ­Gesundheitsdienstleisterin Swiss Medi Kids, die Kinderpermanencen in Zürich, Winterthur ZH und ­Luzern betreibt, Arztstationen für dringende Behandlungen, die ausgerüstet sind wie kleine Spitäler.

Ohne Pauschale fehlen 20 Prozent vom Umsatz

Knapp 25'000 Kinder werden hier jährlich behandelt. So viele wie in der Kinderambulanz des Berner Inselspitals. Damit ist sie die grösste private Kinderpermanence der Schweiz. Noch. CEO Berlinger: «Wenn die Massnahmen wie vom BAG geplant umgesetzt werden, müssen wir unsere Permanencen schliessen.» Ohne die Pauschale fehlten 20 Prozent des Umsatzes.

Haus- und Kinderärzte, Gemeinschaftspraxen und Permanencen dürfen Notfallpauschalen berechnen – wenn sie belegen können, dass es sich um einen Notfall gemäss Tarmed-Kriterien handelt. Und: Fünf Minuten nach dem Eintritt muss ein Arzt den Patienten voruntersuchen. Geht es nach dem Bund, sollen künftig nur noch Haus- und Kinderärzte mit eigener Praxis die Pauschale erhalten, dafür sei die Notfallpauschale einst erfunden worden, sagt das BAG.

Die Permanencen mit ihren langen Öffnungszeiten entsprechen einem Bedürfnis. 60 Prozent der Patienten drängen an Wochenenden oder zu Randzeiten ins Wartezimmer. Swiss Med Kids plante neue Standorte in Basel, Bern, St. Gallen und Lausanne. Doch die Ausrichtung auf Notfälle bringt hohe Zusatzkosten mit sich.

«Fundamental wichtig»

Dem Bund fehlen exakte Zahlen zur Rolle der Kinderpermanencen in der schweizerischen Gesundheitsversorgung. Eine BAG-Sprecherin zu SonntagsBlick: «Inwiefern das Angebot in diesem Bereich der tatsächlichen Nachfrage entspricht oder diese gar beeinflusst, kann das BAG nicht beurteilen.» Das bedeutet: Der Bund hält es für möglich, dass Kinderpermanencen für mehr Patienten und höhere Kosten sorgen. Weil besorgte Eltern ihre Kinder auch ausserhalb normaler Öffnungszeiten zum Arzt bringen können.

Die meisten Patienten jedoch kommen nur einmal in die Permanence. Im Notfall.

Kerstin Grasser (Name geändert) ist mit ihren beiden Söhnen in der Permanence. Ihr Dreijähriger leidet an einem seltenen Gendefekt. «Seine Situation kann sich schnell verschlechtern, dann brauchen wir rasch einen Arzt – auch am Wochenende.» Das Kinderspital Zürich habe lange Wartezeiten. Die Mutter: «Für uns ist die Permanence fundamental wichtig.»

Die Fehlbeträge berappt der Steuerzahler

In den Kinderpermanencen von Swiss Medi Kids in Zürich, Winterthur ZH und ­Luzern werden jährlich knapp 25'000 Kinder behandelt.
Foto: Thomas Meier

Nicht nur Permanencen sind wegen der Sparmassnahmen besorgt, auch öffentliche Kinderspitäler würden die beabsichtigten BAG-Massnahmen hart treffen. Unter anderem plant Berset, Anzahl und Dauer ärztlicher Konsultationen zu bremsen.

Markus Malagoli, CEO des Kinderspitals Zürich, hält die Auswirkung für «dramatisch». Christoph Aebi, Leiter der Kinderklinik im Inselspital Bern, sagt einen «katastrophalen Effekt voraus». In Zürich rechnet man mit einem jährlichen Verlust von 4,6 Millionen Franken. Das Universitäts-Kinderspital beider Basel mit 4,5 Millionen Mindereinnahmen, die Kinderabteilung des Inselspitals mit einem Minus von zwei Millionen. Die Fehlbeträge berappt der Steuerzahler.

Kinderspitäler und Permanencen erhöhen nun den politischen Druck. Bis 21. Juni läuft die Vernehmlassung. Auf Nachfrage der Grünliberalen Nationalrätin Tiana Moser (38) äusserte sich letzte Woche auch Bundesrat Alain Berset zu der Kontroverse: «Es ist keineswegs das Ziel des Bundesrats, mit der Verordnungsanpassung zum Beispiel Kinderpermanencen in betriebswirtschaftliche Bedrängnis zu bringen.» Die vorgesehenen Massnahmen würden in der Vernehmlassung überprüft.

In der ganzen Schweiz hat es zuwenig Kinderärzte

Allein selbständige Kinderärzte sollen im Augenblick von den Sparplänen in der Pädiatrie verschont blieben. Doch deren Situation ist ohnehin dramatisch. Es fehlt an Nachwuchs. Ganze Regionen entwickeln sich zu Kinderarzt-Wüsten. Im Toggenburg und dem solothurnischen Bezirk Thal gibt es keinen einzigen Kinderarzt. Auch kleine und mittlere Städte sind stark betroffen.

Heidi Zinggeler Fuhrer (50), Kinderärztin in Chur und Co-Präsidentin des Berufsverbands Kinderärzte Schweiz: «Meines Wissens gibt es ausser in Genf in fast keiner Region der Schweiz genügend Praxispädiater.» Jene, die noch praktizierten, würden überrannt. Was laut Zinggeler Fuhrer dazu führt, dass etliche Kinderärzte nur beschränkt neue Patienten annehmen oder einen kompletten Aufnahmestopp verhängen.

Kein Zweifel: Die Kindermedizin in der Schweiz ist krank.

So will Tarmed die Kosten endlich senken

Bundesrat Alain Berset (45) tritt resolut auf die Bremse: Mit einer Kürzung der Abgeltungen für die Ärzte will er bei den ständig steigenden Gesundheitskosten jährlich 700 Millionen Franken einsparen. Betroffen von strafferen Tarifen sind die ambulanten Behandlungen. Die Ärzteschaft warnt: Bersets Eingriff wirke sich besonders negativ auf die Behandlungsqualität in der Notfall-, Alters- und Kindermedizin sowie der Psychiatrie aus.

Ärztinnen und Ärzte verrechnen alle Leistungen in der Praxis und im ambulanten Spitalbereich nach dem Tarmed-Tarif. Tarmed ist ein kompliziertes Vertragswerk mit 4000 Taxpunkten zwischen der Ärztegesellschaft FMH und den Krankenversicherern. Weil sich die Partner nicht auf eine längst fällige Aktualisierung einigen konnten, greift jetzt Berset persönlich ein. Bis am 21. Juni schickt er seine Änderungen in die Vernehmlassung. Umstritten sind Abstriche bei den Zeitlimitationen: Ärzte sollen bei den Patientenkontakten weniger Zeit aufschreiben können. Beispiel: Beim Dermatologen wird der Arztbesuch auf 20 Minuten beschränkt. Aufwendige Kindermedizin werde durch die Tarmed-Kürzung ungenügend abgegolten, warnen die Ärzte. Kranke Kinder brauchen mehr Aufmerksamkeit und Zeit – sie haben beim Arzt Ängste, sind störrisch, wollen zuerst getröstet werden. Ins Gespräch müssen auch die Eltern einbezogen werden.

Hingegen können mit Tarmed technische Kosten dank Digitalisierung und Fortschritt tatsächlich eingespart werden. Beispiel: die Opera­tion des grauen Stars. Dank neuer Technologie soll der Tarif von 376 Franken auf 128 Franken gesenkt werden. Magen-Darm-Ärzte verdienen pro Jahr im Schnitt 393'000 Franken, Kinderärzte 187'000 Franken.

Der für das Gesundheitswesen verantwortliche Bundesrat Alain Berset.
PETER KLAUNZER

Bundesrat Alain Berset (45) tritt resolut auf die Bremse: Mit einer Kürzung der Abgeltungen für die Ärzte will er bei den ständig steigenden Gesundheitskosten jährlich 700 Millionen Franken einsparen. Betroffen von strafferen Tarifen sind die ambulanten Behandlungen. Die Ärzteschaft warnt: Bersets Eingriff wirke sich besonders negativ auf die Behandlungsqualität in der Notfall-, Alters- und Kindermedizin sowie der Psychiatrie aus.

Ärztinnen und Ärzte verrechnen alle Leistungen in der Praxis und im ambulanten Spitalbereich nach dem Tarmed-Tarif. Tarmed ist ein kompliziertes Vertragswerk mit 4000 Taxpunkten zwischen der Ärztegesellschaft FMH und den Krankenversicherern. Weil sich die Partner nicht auf eine längst fällige Aktualisierung einigen konnten, greift jetzt Berset persönlich ein. Bis am 21. Juni schickt er seine Änderungen in die Vernehmlassung. Umstritten sind Abstriche bei den Zeitlimitationen: Ärzte sollen bei den Patientenkontakten weniger Zeit aufschreiben können. Beispiel: Beim Dermatologen wird der Arztbesuch auf 20 Minuten beschränkt. Aufwendige Kindermedizin werde durch die Tarmed-Kürzung ungenügend abgegolten, warnen die Ärzte. Kranke Kinder brauchen mehr Aufmerksamkeit und Zeit – sie haben beim Arzt Ängste, sind störrisch, wollen zuerst getröstet werden. Ins Gespräch müssen auch die Eltern einbezogen werden.

Hingegen können mit Tarmed technische Kosten dank Digitalisierung und Fortschritt tatsächlich eingespart werden. Beispiel: die Opera­tion des grauen Stars. Dank neuer Technologie soll der Tarif von 376 Franken auf 128 Franken gesenkt werden. Magen-Darm-Ärzte verdienen pro Jahr im Schnitt 393'000 Franken, Kinderärzte 187'000 Franken.

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