Experten zerpflücken Überwachungs-Vorlage
«Das Gesetz ist komplett missraten»

Das Gesetz zur Überwachung von Sozialversicherten sei «eines liberalen Staates unwürdig». So lautet das Fazit von Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht an der Universität Basel. Es handle sich um «ein unnötiges, sicher aber unsorgfältiges Gesetz». Er stellt sich hinter das Referendumskomitee gegen die Versicherungsspione.
Publiziert: 15.10.2018 um 11:47 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2018 um 14:15 Uhr
Francesco Bertoli von der Behindertenorganisation Agile zeigt dem Parlament die rote Karte für das Gesetz zur Überwachung von Sozialversicherten.
Foto: KEYSTONE/PETER KLAUNZER

«Das ist kein gutes Gesetz.» Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht an der Universität Basel, wählte heute vor den Medien in Bern klare Worte. Der neue Gesetzesartikel zur Überwachung von Sozialversicherten sein «ein unnötiges, sicher aber unsorgfältiges Gesetz».

Pärli gehört zu den Experten, die das Komitee «Nein zu Versicherungsspionen» zu Wort kommen liess. Diese waren sich einig: Missbrauch soll bekämpft werden, aber nicht so. Für Pärli ist fraglich, ob es überhaupt ein Gesetz braucht - ob die Sozialversicherungen tatsächlich überwachen sollten oder ob dies nicht allein Sache der Polizei und Justiz sein sollte.

Es gäbe auch den Weg der Strafanzeige

Der unrechtmässige Bezug von Sozialversicherungsleistungen sei ein Delikt, gab er zu bedenken. Wenn ein Verdacht auf Missbrauch bestehe, könnten die Sozialversicherungen Strafanzeige erstatten. Die Justiz kläre den Verdacht in einem rechtsstaatlichen Rahmen.

Das Parlament habe anders entschieden, das sei sein gutes Recht, sagte Pärli. Wenn aber Sozialversicherungen in die Privatsphäre der Versicherten eingriffen, bedürfe es eines sorgfältigen Gesetzes. Die Voraussetzungen, Modalitäten und Schranken der Überwachung müssten unmissverständlich festgelegt werden.

Gesetz öffnet Tür und Tor

Das Gesetz, über das im November abgestimmt wird, erfülle dies nicht. «Die Mängelliste ist lang», sagte der Professor. Zurecht werde befürchtet, dass das Gesetz Tür und Tor öffne für Observationen bis in die Wohnung hinein. Im Gesetz steht, die Person müsse sich an einem allgemein zugänglichen Ort befinden oder an einem Ort, der von einem solchen aus frei einsehbar ist. Was das bedeutet, ist laut Pärli unklar.

Aus Sicht des Sozialrechtsprofessors ist zudem problematisch, dass die Sozialversicherungen selbst Überwachungen anordnen dürften. Sie seien Partei, gab er zu bedenken. Nur ein Gericht gewährleiste eine objektive Prüfung der Frage, ob die Überwachung erforderlich sei.

Schliesslich wies Pärli darauf hin, dass mit dem Gesetz nicht nur die IV und die Suva, sondern sämtliche Sozialversicherungen Überwachungen vornehmen dürften. Der Bundesrat sage, faktisch habe die Observation nur für die IV und die Suva Bedeutung. Doch dann gebe es keinen Grund, auf Vorrat allen die Überwachung zu erlauben.

Konsumentenschutz bangt um Krankenversicherte

Für Sara Stalder, der Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz, ist keineswegs klar, dass nur die IV und die Suva von den Möglichkeiten Gebrauch machen werden. Auch die Krankenkassen könnten dies tun, befürchtet sie. Zudem werde das Gesetz in der Versicherungsbranche Lust auf mehr wecken. Als nächstes dürften die privaten Versicherungen Überwachungsmöglichkeiten verlangen.

Stalder wies auf das Lobbying hin, das den Gesetzgebungsprozess beeinflusst habe. 40 Parlamentsmitglieder stünden der Versicherungsbranche nahe und 15 seien direkt verbandelt. Aus diesem Grund sei der Gesetzgebungsprozess ausser Rand und Band geraten. «Das Gesetz ist komplett missraten und inakzeptabel», sagte Stalder.

Francesco Bertoli, Vorstandsmitglied der Behindertenorganisation Agile, kritisierte, dass wegen einiger Betrüger alle Bezügerinnen und Bezüger von Sozialversicherungsleistungen unter Generalverdacht stünden. Vor allem Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen litten darunter.

«Betroffen ist die ganze Bevölkerung»

Auch Adrian Wüthrich, Präsident von Travail.Suisse und SP-Nationalrat fordert: «Zurück an den Absender». Mit dem Gesetz würden hoheitliche Aufgaben privatisiert, sagte er. Betroffen sei die ganze Bevölkerung. «Die Reissleine kann nur noch mit einem Nein am 25. November gezogen werden.»

«Ein Gericht soll entscheiden, ob die Überwachung zulässig ist»
2:19
Überwachung ja, aber nicht so:«Ein Gericht soll entscheiden, ob die Überwachung zulässig ist»

Dann entscheiden die Stimmbürger über die Vorlage. Das Referendum ergriff ein Bürgerkomitee. Die IV und die Suva hatten schon früher Versicherte observieren lassen. Vor zwei Jahren kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber zum Schluss, dass dafür keine ausreichende gesetzliche Grundlage bestehe. In der Folge mussten die Observationen eingestellt werden. (sda/awi)

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