Montag um halb elf Uhr im Restaurant Engel in Stans NW. Am Stammtisch sitzen vor einem Eichhof-Herrgöttli drei von einer sonst grossen Runde: Fridel, Walti und René. Männer im Ruhestand, kamerascheu, aber diskussionsfreudig. Innert fünf Minuten finden sie eine Lösung für Geschäfte, die die Regierung stundenlang durchkaut. Bei einer Frau sind sie sich nicht einig: Michèle Blöchliger (55), Nidwaldner SVP-Bundesratskandidatin, ehemalige Gesundheitsvorsteherin des Kantons.
Fridel: «Ich finds gut, dass sie kandidiert. Sie ist eine angenehme Froi.»
Walti: «Gut schon, aber für Bern reichts wohl nicht.»
Fridel: «Wenn du mich fragst, ist sie eine der besseren Regierungsrätinnen. Corona hat sie super gemeistert.»
René: «Aber jetzt hätte sie von Anfang an ehrlich sein sollen. Ein grosser Fehler.»
Fridel: «Man sagt schnell mal was dahin, das muss man jetzt nicht an die grosse Glocke hängen.»
Nidwalden stellte noch nie einen Bundesrat
Mitte Oktober gab Michèle Blöchliger (55) ihre Kandidatur bekannt. Damals sagte sie, sie habe keinen britischen Pass mehr. Auch wenn es so auf Wikipedia stehe. Dann musste sie einräumen: Die britische Staatsbürgerschaft hat sie immer noch. Kurz darauf kam zudem raus: Sie und ihr Mann sind an einem Unternehmen beteiligt, das ein Esoterikpflaster vertreibt. Es hagelte Kritik. Blöchliger sagt nun zur Staatsbürgerschaftssache: «Das war eine Fehlaussage, dazu stehe ich.» Sie sei ein ehrlicher Mensch. Habe nach der negativen Presse viel Zuspruch erhalten. Sie sagt: «Ich fühle mich nach wie vor von der Bevölkerung getragen.» Und hält an ihrer Kandidatur fest.
Stans ist der Hauptort des Kantons Nidwalden, den die Rest-Schweiz nicht kennt – ausser vielleicht als Tiefsteuerparadies, Heimat der Pilatus-Werke und von Skirennfahrer Marco Odermatt (25). Wie tickt dieser Kanton mit seinen 44'000 Einwohnern, der noch nie einen Bundesrat gestellt hat? Wir haben einen ehemaligen Grünen-Politiker und Historiker getroffen und einen Treichler, der einen alten lokalen Brauch pflegt – so wie die Stammtischrunde auch.
Im Engel sagt man, was man denkt. Fridel denkt so: «Wir Nidwaldner sind kritische Menschen.» Man sage nicht einfach zu allem Ja. Einer, der das erklären kann, ist Peter Steiner (71). Ein Urgestein. Er sass früher für die Grünen in der Stanser Regierung und hat zwei Buchbände zur Geschichte des Kantons mitverfasst. Er sagt: «Die Nidwaldner sind offene Leute, aber das mussten sie sich erarbeiten.»
Kompliziertes Verhältnis zum Bundesstaat
Wir stehen mit ihm auf dem grossen Dorfplatz. Vor uns der «gute Noldi», wie Steiner sagt. Und meint das Winkelried-Denkmal. Es zeigt Arnold Winkelried aus Nidwalden, eine mythische Figur, die sich in der Schlacht bei Sempach 1386 in den Speer-Hagel der feindlichen Habsburger wirft. Und damit den Eidgenossen eine Gasse öffnet, wodurch diese siegen. Das Denkmal ist ein Geschenk der Eidgenossenschaft an Nidwalden. Steiner sagt: «Die Eidgenossenschaft wollte den Nidwaldnern zeigen: Wir gehören zusammen, haben eine gemeinsame Geschichte.»
Das war bitter nötig. Müsste man einen Beziehungsstatus für Nidwalden und die Schweiz angeben, wäre es dieser: kompliziert. Der Gründungskanton der Urschweiz sagte oft Nein zu dem, was von oben kam: 1798 die Verfassung der Helvetischen Republik Napoleons, 1815 der Bundesvertrag, 1848 die erste Bundesverfassung und 1874 deren Revision.
Ähnlich der Knorz mit dem Nachbarn Obwalden. Nur der Kernwald trennt die beiden Kantone, dies jedoch wie ein grüner Graben. Vertieft durch ein Ereignis: den Feldzug der Franzosen in Nidwalden von 1798, ein Massaker. Zum Trauma gehört die Schuldfrage. In Nidwalden erzählt man sich: Die Obwaldner zeigten den Franzosen freiwillig den Weg, so dass sie bei ihnen brandschatzen und Frauen vergewaltigen konnten. Fest steht: Ein paar Obwaldner wurden dazu genötigt. Doch die Legende entfaltet bis heute seine Wirkung. René vom Stammtisch sagt: «Es ist eine Hassliebe, nach wie vor.»
Der Historiker Steiner sagt: «Der Kanton hat die alten Geschichten hinter sich gelassen.» Sei offen für Neues. Tolerant gegenüber anderen. Er nimmt Blöchliger als Beispiel. Sie wuchs in Basel-Stadt auf, kam 1991 nach Nidwalden. Hat den Dialekt behalten. Steiner sagt: «Das war nie ein Problem, sie konnte Karriere machen.»
Er lebt ein Nidwaldner Kulturgut
Steiner und Blöchliger kennen sich seit Jahren. Das soziale Geflecht im kleinen Kanton ist dicht. Das zeigt auch das letzte Treffen bei einem Forsthaus hoch oben über Stans, bei Marc Hasler (38). Er ist in der gleichen Feuerwehr aktiv wie Steiners Tochter. Hat nun eine «Treychel» mitgebracht, nimmt sie zwischen die Beine, schlägt einmal an. So müsse das klingen: «täif» – tief.
An Haslers Ohrläppchen baumelt ein Goldring mit dem Wappen-Schlüssel des Kantons. Hasler steht für ein anderes Nidwalden als Steiner. Ein traditionelles, das seine Bräuche pflegt. Er ist Ehrenmitglied der Eichhor Treychler. Deren Aufgabe: «Wir läuten dem Samichlais den Weg.» Treichler sind Teil eines alten Nidwaldner Kulturguts: Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit zieht der «Samichlais» durch die Dörfer. Hunderte von Treichlern begleiten ihn. Das ganze Dorf macht mit. Ein Volksfest.
Hasler ist schon als Bub mit einer Treichel durch Stans gezogen. Lernte früh: «Das Auftreten muss stimmen.» Der Rhythmus des Glockenschlags beim Gehen, alle möglichst im gleichen Takt. Das kann nicht jeder. Es braucht Taktgefühl. Er sagt: «Üben kann man das nicht.» Das sah man bei den Corona-Protesten, wo das Taktgefühl offensichtlich keine Rolle spielte. Bewerten will das Hasler nicht, aber sich abgrenzen: Mit den Treichlern dort habe er nichts zu tun. Für ihn sei es nicht bloss ein Spass. «Wir leben das Treychlen.»