Alex (50) steht an der Tramhaltestelle vor dem Zürcher Hauptbahnhof und zieht Deyli ein Mäntelchen über. Wenn ihrem Hund kalt ist, findet sie es schlimmer, als selber zu frieren.
Die Kälte ruft Erinnerungen in ihr wach. An die Zeit, als sie auf der Strasse lebte – fünf Jahre lang. Mal schlief sie in dieser Ecke des HB, mal in einer anderen. Es waren die Drogen, die ihr einen Strich durchs Leben machten. In manchen Nächten, wenn sie frierend irgendwo draussen lag, wünschte sie sich, dass ihre Eltern sie suchen und heimbringen. Sie kamen nicht.
Heute ist Alex im betreuten Wohnen und im Drogenabgabeprogramm. Trotzdem lebt sie meistens draussen. Mehr als die eisige Luft schmerzt sie dann die zwischenmenschliche Kälte, die ihr häufig entgegenschlägt: «Nur weil ich so angezogen bin, heisst das doch nicht, dass ich kein guter Mensch bin!»
Manchmal stehe sie im Tram und habe das Gefühl, die Leute könnten in sie hineinschauen. Sehen, dass sie abhängig ist. Sie spürt, dass sie dafür verurteilt wird. Und sagt: «Oft hat Drogenkonsum eine Vorgeschichte. Etwas, was nicht verarbeitet werden konnte.» Ist Alex traurig, spendet Deyli Wärme. Hoffnung gibt ihr auch der nahende Frühling. Mit den warmen Temperaturen öffnen auch die Menschen ihre Herzen wieder, sagt sie.
Die wenigsten wollen über ihre Situation reden
Wer eine Weile in der grossen Bahnhofshalle verbringt, sieht sie: Menschen, die nicht hier sind, um auf den Zug zu warten. Sie sitzen mal auf dieser Bank, mal auf der anderen. Sie haben die Mützen tief ins Gesicht gezogen. Reden möchten sie nicht. Sie fallen nicht gern auf.
Doch Obdachlose leben nicht nur in der Stadt. Es gibt auch solche, die in Forsthütten im Wald übernachten. Sinken die Temperaturen unter minus zehn Grad, wird es allerdings gefährlich. Nächste Woche ist es so weit. Kältepatrouillen suchen deshalb in Bern und Zürich nach Obdachlosen und versuchen sie davon zu überzeugen, in einer Notschlafstelle Schutz zu suchen, bei Bedarf verteilen sie Winterschlafsäcke.
An einer Bushaltestelle beim Hauptbahnhof sitzt Sarvar (80). Er ist dick eingepackt in Decken, isst Pizza, trinkt Tee. Es sind Aufmerksamkeiten von Passanten. Sarvar kommt aus Afghanistan, lebt seit eineinhalb Jahren auf Zürichs Strassen. Was ihn hierher verschlug, bleibt unklar. Er fürchtet sich vor den tiefen Temperaturen. Letzten Winter war nachts der Flughafen seine Zuflucht. Weil dort keine Obdachlosen mehr toleriert werden, schläft Sarvar nun draussen. Sitzend, sagt er. Gefragt, was er tun würde, hätte er eine Wohnung, meint er: in einem Bett liegen, warm haben und schlafen.