So erging es den Schweizerinnen im Lockdown
«Wir haben diese Entschleunigung offenbar gebraucht»

Nach dem Ausnahmezustand kehrt am 11. Mai wieder etwas Normalität in unser Leben ein. Was nehmen wir aus der Krise mit? Zeit für eine Bestandesaufnahme.
Publiziert: 09.05.2020 um 23:57 Uhr
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Aktualisiert: 10.05.2020 um 13:12 Uhr
Camilla Alabor, Valentin Rubin, Fibo Deutsch, Dana Liechti

Vor acht Wochen legte sich eine seltsame Stille über das Land. Die Strassen wie leer gefegt, die Geschäfte geschlossen, vor den Cafés stapelten sich die Stühle. Sogar der SBB-Taktfahrplan, der Pfeiler der schweizerischen Identität, fiel der Corona-Krise zum Opfer.

Ab Montag ist damit Schluss: Schulen, Geschäfte und Restaurants öffnen wieder. Die SBB fahren ihren Betrieb weiter hoch. Eine neue Normalität kehrt ein.

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Wie haben Schweizer den Lockdown erlebt? Und was nehmen sie daraus mit?
Foto: keystone-sda.ch

Ganz so wie früher wird unser Leben in den nächsten Monaten zwar nicht. Allerdings erlangen wir zumindest ein Stück Freiheit wieder, das während des Lockdowns abhandengekommen ist.

Zeit also für eine erste Bilanz: Wie haben wir diese Zeit erlebt, die viele in den eigenen vier Wänden verbrachten? Und was nehmen wir aus dieser Krise mit? Das versuchte SonntagsBlick im Gespräch mit Bürgern und Expertinnen herauszufinden.

Viele können der Krise positive Seiten abgewinnen

Klar ist: Der Lockdown hatte extrem negative Folgen. Er führte zu Einsamkeit, Überforderung, löste Existenzängste aus; ganz -zu schweigen von den wirtschaftlichen Konsequenzen. Überraschend zeigte sich aber auch: Viele Menschen können der Krise inzwischen positive Seiten abgewinnen.

Doris Oppliger (51) zum Beispiel hat dank des Lockdowns eine neue Berufung gefunden. Nor-malerweise arbeitet die Aargauerin in einem Spielsalon. Untätig herumsitzen wollte sie aber nicht, nachdem der Salon wegen Corona geschlossen wurde. «Ruhe ist nichts für mich», sagt Oppliger.

Also schloss sie online eine Ausbildung zur Seniorenbetreuerin ab – inklusive Prüfung. Seither begleitet sie ältere Personen, damit sie dank dieser Hilfe weiterhin ihren Alltag meistern können. Mal macht Oppliger Besorgungen für die Senioren, mal unterstützt sie diese im Haushalt oder hilft ihnen bei der täglichen Körperpflege.

«Der Job ist eine tolle Erfahrung, die ich ohne den Lockdown nicht gemacht hätte», sagt sie. «Denn mit meinen unregelmässigen Arbeitszeiten im Spielsalon und den Einsätzen bis um Mitternacht wäre es gar nicht möglich gewesen, eine solche Ausbildung zu machen.»

Studie zeigt: Erwerbstätige sind zufriedener

Auch andere Menschen freuten sich über die unerwartete Auszeit, die der Lockdown mit sich gebracht hat (siehe unten).

Katja Rost, Soziologin an der Universität Zürich, kommt zum Schluss: «Wir haben diese Entschleunigung offenbar gebraucht.»

Ihre Beobachtung: Viele leiden darunter, dass sich das Leben in den letzten Jahrzehnten derart beschleunigt hat. «In unserer Gesellschaft herrscht der Druck vor, schneller, höher, besser zu sein – ohne dass wir uns fragen, warum», sagt Rost. «Die Krise hat diese Routine durchbrochen und eine gewisse Ruhe in unser Leben gebracht.»

Ähnlich die Ergebnisse einer Studie, welche die Universität Zürich diese Woche veröffentlichte. Die Autoren befragten im April rund 600 Erwerbstätige zu Arbeitsbedingungen und Wohlbefinden. Das Resultat: Viele fühlen sich zufriedener und können besser entspannen als ein Jahr zuvor, als die Umfrage erstmals durchgeführt wurde. Auch bringen sie ihr Arbeits- und Privatleben müheloser unter einen Hut.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Wer kleine Kinder zu betreuen hatte, erlebte laut der Untersuchung eine höhere Belastung. Dennoch zieht Studienleiterin -Rebecca Brauchli ein positives Fazit: Die Tatsache, dass sich die Erwerbs-tätigen trotz Krise weniger gestresst fühlten als zuvor, mache deutlich, «wie faszinierend anpassungsfähig wir Menschen sind.»

Der Fokus aufs Lokale dürfte bleiben

Soziologin Rost glaubt indes nicht, dass die neue Gelassenheit von Dauer sein wird. «Wir haben uns viel zu sehr an die Erlebnisgesellschaft gewöhnt», sagt sie. «Wir können mit uns selbst nicht mehr viel anfangen.»

Erhalten bleiben dürften uns dagegen veränderte Konsumgewohnheiten wie der vermehrte Fokus aufs Lokale und Saisonale, schätzt Rost. Denn: «Dieser Trend wurde durch die Corona-Krise noch verstärkt, hatte aber schon lange vorher eingesetzt.» Sei es, dass die Leute statt fünf neuer T-Shirts nur noch eines kaufen, das lokal hergestellt und von guter Qualität ist. Oder dass sie die Ferien in der Schweiz verbringen, statt für einen Pauschalurlaub in die Türkei zu fliegen.

In diesen Sommer dürften dies viele Schweizer Touristen so handhaben – notgedrungen.

«Ich habe gelernt, bewusster im Moment zu leben»

Giada Giorlando-Fabi (41), Business-Kundenbetreuerin in der Telekommunikationsbranche, Dübendorf ZH.
Foto: Thomas Meier

«Normalerweise ist es bei mir und meinem Zwölfjährigen am Morgen etwas hektisch. Ich bin keine Frühaufsteherin, muss aber um 7.15 Uhr an der Bushaltestelle stehen, damit ich um 8 Uhr im Büro bin. Gleichzeitig schaue ich, dass ich meinen Sohn dazu bringe aufzustehen.

Meine Tage sind stark durchgetaktet. Lockdown und Homeoffice waren für mich darum ein Segen: Der ganze Stress fiel weg. Mein Sohn und ich konnten gemütlicher aufstehen – eine Riesenentlastung! Und ich fand sogar Zeit für ein 21-tägiges Meditationsprogramm. Dazu gehörte täglich eine 20-minütige geführte Meditation und die Aufgabe, einen positiven Gedanken zu verinnerlichen.

Dadurch habe ich gelernt, bewusster im Moment zu leben.
Als Alleinerziehende bin ich sonst im Kopf oft schon zwei, drei Schritte voraus und denke an Dinge, die ich noch zu erledigen habe. Dank der Meditation merke ich nun, wenn meine Gedanken in die nahe Zukunft abschweifen –und kann mich besser ins Jetzt zurückholen.

Ohne Lockdown hätte ich weder Zeit noch Energie dafür gehabt. Dafür bin ich dankbar.»

«Wir spürten die emotionale Bindung zu unseren Kunden»

Lisa Fiechter (59), Marktfahrerin mit Fleischprodukten, Volketswil ZH.
Foto: Thomas Meier

«Am 16. März, es war ein Montag, sassen wir drei zusammen, um die Situation nach dem Lockdown-Hammer zu besprechen. Wir hatten keine Ahnung, was genau passieren würde. Zuerst dachten wir, Lebensmittel darf man verkaufen, und Fleisch ist ein Lebensmittel – also gehen wir am Freitag auf den Markt in Zürich.

Dann kam die Meldung, Märkte bleiben geschlossen. Als Erstes stoppten wir die Schlachtung bei unseren Lieferanten. Bald aber kamen Telefone unserer treuen Kunden: «Könnt ihr liefern? Können wir bestellen?» Wir organisierten uns in einem improvisierten Heimladen mit reduziertem Sortiment und freuten uns über den Besuch der Kunden bei uns zu Hause.

Ganze Familien kamen! Sie brachten die Kinder mit, da spürten wir die emotionale Bindung und wie sehr uns unsere Kunden am Herzen liegen.
Da war aber auch die zusätzliche Belastung mit aufwendigen Bestellungen.

Manchmal drohte uns die Decke auf den Kopf zu fallen. Kommende Woche sind wir wieder auf dem Markt zurück. Mein Wunsch nach Corona: dass alles einmal so sein wird wie vorher ...»

«Schon nach kurzer Zeit war ich weniger gestresst»

Melanie de Witte (26), Handelsschülerin, mit Freund David (26), Hund Velvet und Katze Nice, Willisau LU.
Foto: Nathalie Taiana

«Vor dem Lockdown fuhr ich fünf Tage die Woche mit dem Auto zur Schule. Sobald ich am Morgen in die Stadt kam, sah ich an den Bushaltestellen schlecht gelaunte Menschen, alle zogen einen Lätsch. Diese Stimmung hat sich etwas auf mich übertragen.

Auch sonst stand ich oft unter Druck, es war immer etwas los oder zu tun.
Seit dem Lockdown findet die Schule per Internet statt. Schon nach kurzer Zeit war ich weniger gestresst. Ich hatte mehr Zeit für Dinge, die mir wichtig sind, war von meinem Freund und den Tieren umgeben. Das machte mich megahappy. Wir haben Karten gespielt, mehr geschlafen und selbst Brot gebacken.

Ich konnte auch mal mit meinem Hund spielen, ohne daran zu denken, was ich noch alles erledigen muss. Und ich hatte plötzlich viel Zeit zum Nachdenken. Dabei wurde mir bewusst, dass ich sonst oft jammere, obwohl es gar nicht viel gibt, worüber ich mich beschweren könnte. Ich habe gelernt, dankbar zu sein für das, was ich habe. Und Momente bewusst zu geniessen.

Das möchte ich auch nach dem Lockdown beibehalten.»

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