BLICK: Herr Aschwanden, die Eltern von Adeline wollten bei jedem Verhör des Mörders ihrer Tochter dabei sein. Ist das sinnvoll?
Ralph Aschwanden*: Das ist eher nicht zu empfehlen. Der Täter ist einfach psychopathisch gestört. Das «Warum» verstehen sie nur, wenn sie akzeptieren, dass es solche nach aussen gesund erscheinende, aber hinter der «Gesundheitsmaske» eigentlich schwer gestörte Menschen gibt. Es nützt nichts, das immer wieder zu hinterfragen. Psychopathen mit zusätzlichem sexuellem Sadismus haben Freude am Quälen und Töten. Das Kämpfen für eine Verwahrung des Mörders hingegen hilft dem Gerechtigkeitsempfinden der Angehörigen sicherlich.
Aber ist es nicht eine Form der Verarbeitung, alles über den Täter wissen zu wollen?
Die Eltern sollten grundsätzlich machen, was ihr Bedürfnis ist. Ein Trauma muss man so lange verarbeiten, bis man es begriffen hat. Bis es nicht mehr ständig im Kopf herumschwirrt. Wenn man sagen kann: Jetzt weiss ich genug und habe es verstanden, dann kann ich es in der Vergangenheit ablegen. Viele Menschen können oder wollen nicht begreifen, dass es «geborene» bösartige Psychopathen gibt und suchen die Schuld immer in deren Umgebung und in der Gesellschaft. Aber genauso wie es Menschen gibt, die zu viel Angst, Scham und Gewissen haben, gibt es Menschen, denen das fehlt. Es gibt Menschen ohne Empathie, ohne Gewissensbisse und ohne Scham. Wenn dann noch zusätzlich Minderwertigkeitskomplexe und Egoismus dazukommen, entsteht ein Psychopath in forensisch-psychiatrischem Sinn. Eine typische Eigenart des Psychopathen ist, dass er herausragende täuschende Fähigkeiten hat, indem er eine sogenannte «Mask of Sanity» aufsetzt. Darauf fallen reihenweise leichtgläubige Therapeuten, Juristen und Journalisten rein. Da ist nicht die Gesellschaft schuld. So etwas gibt es überall auf der Welt. Es sind vorwiegend genetisch ungünstige Bedingungen, die dazu führen.
Manchmal ist das Streben nach Resozialisierung der falsche Weg. Bei gewissen Tätern muss man damit einfach aufhören.
Die Eltern sagen: «Wir möchten im Wissen sterben, dass er nie mehr freikommt.» Wie wichtig ist eine harte Bestrafung des Täters für Opfer eines solchen Kapitalverbrechens?
Eine harte Strafe für schwere Straftaten ist ein Bedürfnis in der Bevölkerung generell und auch wichtig für die Angehörigen. Manchmal ist das Streben nach Resozialisierung der falsche Weg. Bei gewissen Tätern muss man damit einfach aufhören.
Anscheinend ist der Mörder stolz auf seine Tat. Wie sollten Angehörige damit umgehen?
Der Psychopath verspürt schlicht keine Reue, hat keine Gewissensbisse. Er ist stolz auf die Tat, weil er deswegen bekannt geworden ist, man über ihn spricht, er seinen Narzissmus befriedigen und seine Minderwertigkeitskomplexe überdecken kann. Die Angehörigen müssen verstehen, dass es so etwas gibt. Solche Psychopathen haben teils unglaublich hohe Opferzahlen. Adeline ist eines davon.
Wie und wann sollten die Angehörigen der heute dreijährigen Tochter von Adeline die wahren Hintergründe über den Tod ihrer Mutter beibringen?
Am Anfang sagt man einfach: Es ist ein Unglück geschehen und das Mami ist im Himmel. Erst wenn das Kind verstehen kann und sich selbst dafür interessiert – und dieser Moment wird kommen –, sollte man die ganze Geschichte erzählen.
In diesem Fall dürfte auf fast allen Ebenen Mist gebaut worden sein. Alle waren ein wenig naiv und scheinen den Psychopathen nicht erkannt zu haben.
Die öffentliche Aufarbeitung des Falls und der begangenen Fehler harzt. Welche Bedeutung könnte eine Entschuldigung der staatlichen Institutionen für die Fehleinschätzung im Verarbeitungsprozess der Angehörigen einnehmen?
In diesem Fall dürfte auf fast allen Ebenen Mist gebaut worden sein. Alle waren ein wenig naiv und scheinen den Psychopathen nicht erkannt zu haben. Auch Adeline trägt dabei Mitverantwortung, da sie am nächsten beim Täter war und von ihrer Ausbildung her solche Tätertypen hätte kennen müssen. Aber: Der Hauptschuldige ist der Täter und niemand anders, auch wenn die Bevölkerung immer dazu tendiert, den Behörden die alleinige Schuld zu geben. Entschuldigen tun sich die Behörden am besten, indem sie Fehler zugeben und Konsequenzen ziehen, so dass solche Fehler nicht mehr passieren.
Es gibt im Moment eine riesige Tendenz zu «Humbug-Therapien». Da gibts unzählige Psychologen, Pädagogen, Kunsttherapeuten und andere Therapeuten, die ihre speziellen Ideen an Straftätern ausprobieren wollen.
Glauben Sie nicht an die Therapie von Mördern wie Fabrice Anthamatten?
Es gibt im Moment eine riesige Tendenz zu «Humbug-Therapien». Da gibts unzählige Psychologen, Pädagogen, Kunsttherapeuten und andere Therapeuten, die ihre speziellen Ideen an Straftätern ausprobieren wollen. Unterdessen nennt man auch alles «Therapie». Beispiele sind die sogenannten Arbeitstherapien, Maltherapien oder Reittherapien. Diese vielen Therapeuten müssen sich einfach im Klaren sein, dass in den Gefängnissen nicht jeder harmlos ist und deliktfrei leben will. Meist sind es diese Psychopathen, die solche Therapeuten ausnutzen, um Freiheit zu erlangen – und dann wieder zuzuschlagen. Es gibt einige Experten, die überzeugt sind, dass man Psychopathen eventuell über Jahrzehnte therapieren kann, andere Experten glauben nicht daran. Aber gerade im vorliegenden Fall, wenn schon erfolglos therapiert wurde und dennoch sogar während der Therapie weitere so schwere Delikte begangen worden sind, tendieren die Erfolgschancen gegen Null. Die Herren Richter müssen gar keine Gewissensbisse haben, in diesem Fall die lebenslängliche Verwahrung auszusprechen.
Was kann man aus Ihrer Sicht dagegen tun?
Bei uns bedeutet lebenslänglich ja 15 Jahre Gefängnis. Auch bei Verwahrten braucht es aufgrund des geltenden Rechts alle fünf Jahre eine neue Beurteilung, ob sich etwas geändert hat. Und hier droht die Gefahr: Denn wenn Menschen beurteilen, können auch Fehler entstehen. Bei Fällen wie dem Mörder von Adeline sollten nur erfahrene Psychiater, die schon Psychopathen begutachtet und therapiert haben, entscheiden dürfen.
Ein Problem sehe ich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Richter in Strassburg sind zu weit weg. Und sie beschäftigen sich kaum mit Opfern, sondern nur mit Tätern.
Kritisieren Sie das geltende Recht?
Ein Problem sehe ich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Richter in Strassburg sind zu weit weg. Und sie beschäftigen sich kaum mit Opfern, sondern nur mit Tätern. Entsprechend fällen sie «menschliche» Entscheide zugunsten der Täter. Im Fall Adeline hat das naive Verhalten auf allen Ebenen auch damit zu tun. Eigentlich wäre es gut, wenn die Richter immer auch mit den Opfern sprechen oder sich zumindest auch aus deren Sicht äussern müssten. Denn es gibt nichts Relativeres als Menschenrechte: Es ist immer eine Abwägung, wessen Menschenrechte höher gewichtet werden sollten: Der Täter, der das Menschenrecht «Freiheit» geniessen will, oder das Opfer, das nicht vergewaltigt oder getötet werden will. So wie das heute läuft, habe ich Mühe.
* Dr. med. Ralph Aschwanden, forensischer Psychiater, Amtsarzt und Fachrichter des Kantons St. Gallen, leitet eine Praxis in Uzwil SG.
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