Sie sehen nichts, sie hören nichts: Kurt Morandi und Melanie Ruf leben seit Geburt mit einer Behinderung
«Ich hatte verdammtes Glück»

Statt ihr Schicksal zu beklagen, nehmen sie viel auf sich, um im Arbeitsmarkt tätig zu sein. Kurt Morandi und Melanie Ruf sorgen selber für ihren Lebensunterhalt, stehen mitten in der Gesellschaft und sind mit ihrer Willenskraft und ihrer positiven Grundeinstellung ein Vorbild.
Publiziert: 04.01.2016 um 21:27 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 21:38 Uhr
Von Gabi Schwegler (Text) und Philippe Rossier (Fotos)
«Ich hatte verdammtes Glück»
Foto: Philippe Rossier

Kurt Morandi (46) der blinde Telefonist

Sie ist warm. Sie ist tief. Sie ist durchdringend. Sie ist eine dieser Stimmen, denen man stundenlang zuhören könnte. Sie gehört Kurt Morandi (46). Er ist Telefonoperateur. Und er ist blind.

Ist bei Ihnen alles dunkel? Sehen Sie nur Schwarz? Das kann Morandi nicht beantworten. «Ich weiss nicht, was dunkel ist oder wie Schwarz aussieht», sagt er. «Es ist einfach so, als wären meine Augen nicht hier.» Für Morandi kein Grund, sich ins Dunkel seiner Wohnung zurückzuziehen – auch wenn das Licht bei ihm nie an ist, wenn er alleine ist. Seit fast 24 Jahren arbeitet er als Telefonist bei der Kantonalen Verwaltung Baselland.

Morandi kam zu früh auf die Welt. Weil ihm zu viel Sauerstoff zugeführt wurde, erblindete er. Er wuchs in einem Aargauer Kinderheim auf, da sich seine Mutter nicht um ihn kümmern konnte. Sein beruflicher Weg zeichnete sich früh ab, technische Geräte und besonders Telefone faszinierten ihn. Er erinnert sich an eine Szene aus seiner Kindheit: Er rief beim damaligen Auskunftsdienst 111 an und fragte: «Sali Elfi, wie geht es dir? Was machst du?»

Mit 17 Jahren kam er nach Basel in eine Pflegefamilie und absolvierte die Ausbildung zum Teleoperateur. Nach nur vier Bewerbungen fand er die Stelle bei der Kantonalen Verwaltung Baselland. «Ich hatte verdammtes Glück», sagt er heute, schliesslich gebe es nicht viele Telefonistenstellen für Blinde. «Ich bin stolz darauf, dass ich nicht an einem geschützten Arbeitsplatz bin.»

Sein Pult unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von den anderen im Büro. Nur unter der Tastatur hat er eine sogenannte Braillezeile, die den Text in Blindenschrift darstellen kann. Und er nutzt einen Screen Reader. Dieses Programm bereitet ihm den Bildschirminhalt so auf, dass er ihn wahlweise per Sprachausgabe hören oder auf seiner Braillezeile lesen kann.

Die Anrufer merken davon meist nichts: Er nimmt Telefone entgegen und verbindet sie weiter. «Wenn ein System auf meinem Computer abstürzt, bin ich aufgeschmissen. Aber das sind Sehende ja auch.»

Morandi nimmt für dieses normale Arbeitsleben viel auf sich, nur schon der tägliche ­Arbeitsweg fordert ihm viel ab. Mit dem Tram fährt er vom Wettsteinplatz an den Basler Bahnhof. Dort muss er jemanden finden, der ihn bis in die Halle begleitet. «Der Bahnhofplatz ist sehr belebt und deshalb gefährlich für mich.» Meist klappe es gut, aber es gab schon Tage, da sind ihm Menschen davongerannt, weil sie selber auf den Zug eilen mussten.

Morandi ist es wichtig, in der Welt der Sehenden zu arbeiten. «Wir Behinderten müssen der Gesellschaft zeigen, dass wir hier sind und etwas leisten können und wollen.»

«Eine geschützte Werkstatt würde nichts erleichtern»
Foto: Philippe Rossier

Melanie Ruf (27), die gehörlose Hochbauzeichnerin

Anders als bei den anderen Arbeitsplätzen steht bei Melanie Ruf (27) kein Telefon auf dem Tisch. Das braucht sie nicht. Die Hochbauzeichnerin ist gehörlos.

Sie ist als mittleres von drei tauben Geschwistern zur Welt gekommen, die Eltern sind ebenfalls gehörlos. Ruf kann «ganz wenige Töne ganz wenig wahrnehmen». Manchmal, wenn sie mit eingeblendeten Untertiteln einen Film schaut, stellt sie sich die Stimmen vor.

Sie besuchte in Zürich-Wollishofen die Gehörlosenschule. Als Kind wäre sie gern Lehrerin geworden. In der Jugend wuchs aber ein anderer Berufswunsch heran: Hochbauzeichnerin. Sie habe rasch eine Lehrstelle gefunden, sagt Melanie Ruf. «Was hatte ich für ein Glück!»

Ihr Lehrmeister konnte die Gebärdensprache nicht. Sie las ihm von den Lippen ab, und vieles teilten sie sich schriftlich mit. «Ein Lehrbetrieb oder eine Firma muss sehr offen sein, denn meine Gehörlosigkeit ist eine Herausforderung für alle. Für meine Chefs, meine Arbeitskollegen und für mich.»

In ihrem jetzigen Betrieb ist es etwas einfacher: Seit acht Jahren arbeitet dort ein Gehörloser und brachte vielen Kollegen die Gebärdensprache bei. «Das ist für mich natürlich super», sagt Ruf, «so fällt die sprachliche Barriere». Einzig bei grossen Sitzungen bestellen sie einen Gebärdendolmetscher.

Für die junge Frau, die begeisterte Kite-Surferin ist und in ihrer Freizeit gern Kleider näht, käme ein geschützter Arbeitsplatz nicht in Frage: «In einer geschützten Werkstatt zu arbeiten, würde nichts erleichtern. Im Gegenteil, ich würde mich so selber von der Gesellschaft ausgrenzen.»

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