SonntagsBlick: Für junge Frauen ist es normal, dass ihnen im Ausgang zwischen die Beine gefasst wird, sodass wir uns gar nicht mehr darüber aufregen. Wir leben damit. Müssen wir das?
Christina Klausener: Sicher nicht! Wir müssen uns vielmehr wieder stärker darüber empören.
Warum tun wir das nicht?
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Thematik. In der Fachsprache wird es Rape Culture genannt, Vergewaltigungskultur. Es bedeutet, dass in einer Gesellschaft sexualisierte Gewalt geduldet und normalisiert wird. Indirekt wird die Gewalt an Frauen damit auch gestärkt.
Das tönt auf die Schweiz bezogen seltsam.
Das gehört mit zum Problem. In unserer Selbstverliebtheit und weil nie darüber gesprochen wird, glauben wir, das komme nur in anderen Ländern vor. Ich bin sicher, in jedem Land kann Ihnen jede Frau in einem gewissen Alter von sexuellen Übergriffen und Belästigungen erzählen.
Warum tun Männer das?
Die Gewalt und die Herabwürdigung der Frau sind Teil der ganzen Männlichkeitskultur. Das wird viel zu wenig kritisch thematisiert.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ganz klassisch zeigt dies ein Vorfall von Anfang Jahr auf einem Schiessplatz der Armee. Der Vorgesetzte fragte die Soldaten: «Was macht ihr, wenn ihr heimkommt und eure Frau liegt mit einem anderen Mann im Bett?» Als Reaktion darauf schiessen die Soldaten. Das ist doch absurd: Der Kommandant sagt damit, dass Gewalt eine völlig legitime Reaktion auf eine solche emotional herausfordernde Situation ist.
Wie reagieren Sie, wenn Ihnen ein Mann hinterherpfeift?
Das ist doch keine Kommunikation von Wertschätzung unter Menschen. Einem Hund pfeift man. Trotzdem wird es so thematisiert, dass Frauen es als Kompliment auffassen sollen – das nervt mich.
Haben Männer weniger Sensibilität für den alltäglichen Sexismus, weil sie selber nicht betroffen sind?
Es ist bei jeder Diskriminierung einer Minderheit so: Wer es nicht erlebt hat, kann es nicht nachvollziehen, weiss nicht, wie schlimm so was ist, kann es höchstens ansatzweise nachfühlen. Bei sexualisierter Gewalt oder sexistischer Belästigung ist es extrem, weil jede Frau, die du fragst, so eine Geschichte auf Lager hat. Und du merkst: Es geht jedem nah, es ist ein Angriff auf das Selbstwertgefühl, auch wenn die Frauen noch so tough sind.
Sie sagen Minderheit. Aber Frauen sind doch keine Minderheit.
Aber wir werden wie eine Minderheit behandelt. Absurd, ich weiss.
Politik ist noch immer überwiegend männlich. Welche Auswirkungen hat das?
Würde sexuelle Gewalt ältere, weisse Männer betreffen, wären schon längst Massnahmen ergriffen worden. Es betrifft aber junge Frauen, darum scheint es unwichtig zu sein. Welche Themen politisch und medial behandelt werden, in welchem Bereich das nationale Forschungsprogramm forscht, für welche Sicherheit Geld gesprochen wird – das entscheidet, wer an der Macht ist.
Wir Frauen sollten uns stärker engagieren.
Sicher müssen Frauen vermehrt ihre Anliegen in die Politik einbringen. Aber es gibt auch zivilgesellschaftliche Formen, die wichtig sind – demonstrieren, protestieren, sich zusammenschliessen, gemeinsam die Stimme erheben und gehört werden. Denken wir an die künftigen Generationen: Was hat das für langfristige Auswirkungen, wenn eine Mehrheit der jungen Frauen solche Formen der Gewalt erleben muss? Was tun wir hier der Jugend an?
Nationalrätin Natalie Rickli steht nicht für eine frauenfreundliche Politik. Manche sagen: Sie muss sich nicht wundern, wenn solche Rückmeldungen kommen.
Das ist klassisches Victim Blaming und Teil des gesellschaftlichen Problems: Dem Opfer wird bei sexualisierter Gewalt eine Mitschuld in die Schuhe geschoben. Die nächste typische Stufe wäre zu sagen: Rickli zieht sich auch noch schön an, sie spielt mit ihrer Attraktivität. Das würde beim Opfer eines Autounfalls nie jemand tun.
Auch Männer sind von sexueller Gewalt betroffen.
Das stimmt, und darüber müssen wir genauso reden. Aber es heisst nicht, dass wir deshalb nicht sagen dürfen, dass es in der Schweiz ein riesiges Problem mit Gewalt an Frauen gibt.
Was braucht es, damit Frauen nachts nicht instinktiv einen anderen Heimweg wählen als tagsüber?
Es gibt dieses Paradox in der Forschung, dass junge Männer zwar viel häufiger von Gewalt im öffentlichen Raum betroffen sind als junge Frauen. Die Männer fühlen sich aber nie unsicher, die Frauen schon. Obwohl ihre Gefahr statistisch gesehen kleiner ist.
Das bedeutet?
Sie leben in einer totalen Angstkultur. Wir dürfen den Mädchen aber nicht nur Angst machen. Wir müssen Alternativen aufzeigen. Ihnen sagen: Schau, so kannst du dich wehren und reagieren, wenn du dich unwohl fühlst. Wir müssen darüber sprechen. Sonst schränkt man Frauen in ihrer Freiheit ein, drängt sie aus dem öffentlichen Raum.