«Hirn und Seele hungern mit»
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Süchtig nach Schlankheit:«Hirn und Seele hungern mit»

Sébastien Riccard (27) war süchtig nach Schlankheit
«Hirn und Seele hungern mit»

Anorexie ist eine Erkrankung, die nur Frauen betrifft? Falsch: Sébastien Riccard war jahrelang magersüchtig.
Publiziert: 27.09.2020 um 00:17 Uhr
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Aktualisiert: 26.03.2021 um 17:12 Uhr
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Seit einiger Zeit nimmt die Zahl der Männer zu, die an einer Essstörung leiden.
Foto: Siggi Bucher
Camille Kündig

Rötlich schimmernde Haare, Sommersprossen, feine Züge, androgyne Gangart. «Ein bisschen James-Dean-like», sagt unsere Fotografin beim Shooting. Mit seinem Spiegelbild stand Sébastien Riccard (27) aber lange auf Kriegsfuss: Er war magersüchtig.

Der junge Mann mit der schmalen Silhouette sitzt auf einer Terrasse in der Freiburger Innenstadt. Er erzählt leise von seiner Anorexie. Der Kellner serviert einen Grüntee, auf dem Unterteller liegt ein Schokoladenbonbon. Riccard wirkt sanft, vielleicht etwas fragil. «Es fehlten nicht nur Kilos, sondern auch Selbstbewusstsein», sagt er über sich selbst. Jetzt geht es ihm besser, und er wagt den Schritt an die Öffentlichkeit: «Ich möchte anderen Betroffenen zeigen, dass man die Krankheit besiegen kann – être un exemple pour eux!»

Riccard wurde von Dokumentarfilmen auf Youtube verführt

Einen Artikel über Magersucht zu schreiben, ist eine Gratwanderung. Kiloangaben sollten vermieden, Verhaltensweisen nicht beschrieben werden. Zu gross sei das Risiko, dass sich Leute davon inspirieren lassen, warnen Experten. Bei Riccard waren es Dokumentarfilme auf Youtube. Stundenlang schaut er sich an, mit welchen Strategien sich die Protagonisten – meistens Mädchen – vor dem Essen drückten. Das Thema zu verschweigen, ist jedoch keine Option. «Essstörungen bei Männern sind ein Tabu, das gebrochen werden muss», sagt die Ernährungsberaterin Sarah Stidwill.

Fachstellen sind sich einig: Es leiden aktuell so viele Männer an Essstörungen wie noch nie. Oft sind es Mischformen, oft treten sie zusammen mit einer Sportsucht auf. Die Messinstrumente sind allerdings auf Frauen zugeschnitten: «Männer kreuzen in Tests die Frage, ob sie sich einen flachen Bauch wünschen, weniger an.

«Ich wurde gemobbt, weil ich pummelig war»

Sie würden eher ‹muskulös› wählen», sagt Stidwill, die als Fachberaterin bei der Arbeitsgemeinschaft für Essstörungen arbeitet. Bei vielen Männern dürfte die Krankheit daher unerkannt bleiben. Riccard landete irgendwann beim Arzt. Dieser stellte zwar die Diagnose Anorexie. «Aber für mich war das unmöglich. Ein magersüchtiger Mann? Das gibt es doch gar nicht!, dachte ich.»

«Als Mann zu Magersucht zu stehen, braucht Mumm»

Herr Theunert, die Anzahl der Männer, die an einer Essstörung leiden, wächst stetig. Wie kommt das?
Markus Theunert: Der Zwang zu Attraktivität und Anpassung an ein vermeintliches Körperideal hat die Männer erreicht. Vier von fünf männlichen Jugendlichen sind mit ihrem Körper unzufrieden. Viele wollen ihn optimieren. Andere verstecken ihn schamhaft, weil er nicht «instagrammable» genug erscheint. Essstörungen gehen aber tiefer: Über das Essen gewinnt man Struktur und Kontrolle über sich und sein Leben (zurück). Logisch, dass das zunimmt, wenn immer weniger klar ist, was Mann sein heute heisst.

Andererseits …
… gibt es sicher auch eine Art Gleichstellungseffekt. So wie junge Frauen vermehrt «männliches» Verhalten nachahmen, übernehmen auch Jungen Verhaltensweisen, die früher für Frauen reserviert waren: Sie sorgen sich um ihr Aussehen, wollen attraktiv und sexy sein.

Melden sich Männer mit Anorexie bei Ihnen?
Ganz vereinzelt. Nach wie vor glauben sie, ihre Männlichkeit unter Beweis stellen zu müssen, um unter Männern zu bestehen. Da passt eine «Frauenkrankheit» schlecht rein. Als junger Mann wie Sébastien Riccard zu einer Magersucht zu stehen, braucht besonderen Mut. Das finde ich toll.

Sie selbst waren als junger Mann betroffen, wie Sie in einem Buch verrieten ...
Das stimmt. Interessanterweise wurde ich trotzdem nur ein einziges Mal darauf angesprochen. Auch das mag ein Hinweis sein, wie tabuisiert Essstörungen von Männern noch immer sind. Das muss sich dringend ändern. Interview: Camille Kündig

«Männer dürfen bei Gleichstellungsfachstellen mitmachen, solange sie nicht stören.»
Markus Theunert
Sabine Wunderlin

Herr Theunert, die Anzahl der Männer, die an einer Essstörung leiden, wächst stetig. Wie kommt das?
Markus Theunert: Der Zwang zu Attraktivität und Anpassung an ein vermeintliches Körperideal hat die Männer erreicht. Vier von fünf männlichen Jugendlichen sind mit ihrem Körper unzufrieden. Viele wollen ihn optimieren. Andere verstecken ihn schamhaft, weil er nicht «instagrammable» genug erscheint. Essstörungen gehen aber tiefer: Über das Essen gewinnt man Struktur und Kontrolle über sich und sein Leben (zurück). Logisch, dass das zunimmt, wenn immer weniger klar ist, was Mann sein heute heisst.

Andererseits …
… gibt es sicher auch eine Art Gleichstellungseffekt. So wie junge Frauen vermehrt «männliches» Verhalten nachahmen, übernehmen auch Jungen Verhaltensweisen, die früher für Frauen reserviert waren: Sie sorgen sich um ihr Aussehen, wollen attraktiv und sexy sein.

Melden sich Männer mit Anorexie bei Ihnen?
Ganz vereinzelt. Nach wie vor glauben sie, ihre Männlichkeit unter Beweis stellen zu müssen, um unter Männern zu bestehen. Da passt eine «Frauenkrankheit» schlecht rein. Als junger Mann wie Sébastien Riccard zu einer Magersucht zu stehen, braucht besonderen Mut. Das finde ich toll.

Sie selbst waren als junger Mann betroffen, wie Sie in einem Buch verrieten ...
Das stimmt. Interessanterweise wurde ich trotzdem nur ein einziges Mal darauf angesprochen. Auch das mag ein Hinweis sein, wie tabuisiert Essstörungen von Männern noch immer sind. Das muss sich dringend ändern. Interview: Camille Kündig

Die Gründe, warum jemand der Magersucht verfällt, sind vielfältig. Typisch ist Übergewicht als Kind. «Ich wurde gemobbt, weil ich pummelig war», erinnert sich Sébastien Riccard. Er war 20 und wog knapp 100 Kilo, als er anfing, Kalorien zu zählen. Zunächst liess er Kohlenhydrate weg, dann Milchprodukte. Er schrieb akribisch in ein Notizbuch, was er ass. Irgendwann nahm er nur noch ein Mal pro Tag dampfgekochten Broccoli zu sich. «Früher oder später spürt man den Hunger nicht mehr.» Binnen sechs Monaten halbierte sich sein Körpergewicht. «Ich erhielt extrem viele Komplimente. Das motivierte zum Weitermachen.»

Nur noch Kleider aus der C&A-Kinderabteilung

Warum er nicht aufhören konnte zu fasten, als er bereits spindeldürr war, kann er sich nicht erklären. Dabei würden nicht nur Kilos schwinden: «Das Gehirn und die Seele hungern mit.» Schnell verlor er Lebensfreude, Freunde und schlussendlich die Freundin. Er hatte Erinnerungslücken und litt an Konzentrationsschwierigkeiten. «Und ankleiden konnte ich mich irgendwann nur noch in der Kinderabteilung von C&A.» Damals wurde er in eine spezialisierte Klinik eingeliefert. «Dort mussten wir uns nacheinander wägen. Das führte zu einem kranken Wettkampf: Jeder wollte mehr Gewicht verlieren.»

Schlussendlich verhungerte Riccard beinahe. «Meine Mutter und mein Vater wurden zu Pflegern.» Er lag fünf Wochen auf der Intensivstation, hing an einer Magensonde. Es war ein Kampf um jedes Gramm. «Ich fühlte mich gehen und sah meine Mutter weinen. Dann machte es klick! Ich wusste, dass ich so nicht weitermachen, sondern gesund werden wollte.»

Heute wiegt er 20 Kilo mehr. Einfach ist der Alltag aber (noch) nicht: «Die Regale in den Läden sind vollgefüllt mit Light-Produkten. Das ist für jemanden mit Anorexie gefährlich.» Die letzten Monate hätten zu seiner Genesung beigetragen: «Der Fokus lag auf einmal auf dem Virus und nicht mehr auf meinem Gewicht. Das tat gut, so paradox es klingen mag.» Nun hat er grosse Pläne, will heiraten und Kinder haben. «Die Ernährung wird immer ein Schwachpunkt für mich sein, wie Hochprozentiges für einen Alkoholiker», sagt er und zeigt auf das ungeöffnete Schokoladenbonbon auf dem Tisch. «Aber heute schaue ich nicht mehr auf die Waage, sondern in die Zukunft!»

Magersucht und Bulimie sind kein reines Frauenproblem

Rund 300’000 Menschen in der Schweiz leiden an einer Essstörung. Die Dunkelziffer ist hoch, etwa ein Viertel der Betroffenen sind Männer. Geredet wird darüber aber kaum. Zeit, das Tabu zu brechen.

Rund 300’000 Menschen in der Schweiz leiden an einer Essstörung. Die Dunkelziffer ist hoch, etwa ein Viertel der Betroffenen sind Männer. Geredet wird darüber aber kaum. Zeit, das Tabu zu brechen.

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