Der Winter gibt sich widersprüchlich. Früh kam der Schnee. Der Föhn fegte ihn weg. An Weihnachten war es braun. Kunstschnee-Wetter.
Oben in St. Moritz GR rasen sie um Gold. Kinder unten in der Stadt vergnügen sich am iPhone statt auf dem Eis. Die Ferien verbringen sie am Strand, nicht am Hang. Vor der Verödung der Alpen warnte die Denkfabrik Avenir Suisse diese Woche an einer Medienkonferenz.
Dann ist die Schweiz keine Ski-Nation mehr? Das nationale Leitmotiv «Alles fährt Ski» passé?
Hightech statt Heidi
Selbst der ewige Alpen-Optimist schlägt Alarm. «Das Skigeschäft wächst nicht mehr», sagt der CEO der Weissen Arena in Laax GR, Reto Gurtner (62). Lässig sitzt er auf der Terrasse eines Laaxer Hotels, trägt Jeans und Sonnenbrille. «Vor dreissig Jahren gab es für Unterländer eine Möglichkeit, im Winter die Sonne zu sehen – in den Alpen. Heute ist es billig, an die Wärme zu fliegen.»
Winter gebe es wegen des Klimawandels nur noch oberhalb von 2000 Metern. Skigebiete in Stadtnähe seien zu. «Der Nachwuchs fehlt, der europäische Markt schrumpft, der starke Franken vertreibt europäische Gäste.»
Und doch sagt Gurtner: «Solange es verrückte Kerle gibt, haben Berge eine Zukunft.»
Verrückte wie ihn. Er holte finnische Programmierer nach Laax. Sie entwickeln für Gäste Apps, die deren ständige Begleiter sind. Gurtner erhält dafür Daten und weiss, was sie tun.
«Wintersport muss Jugendliche ansprechen, sonst stirbt er aus.» Nicht bessere Anlagen braucht es, nicht noch mehr Kunstschnee. «Es braucht ein lässiges Lebensgefühl.»
Und ein neues Image. «Wir preisen die Alpöhi- und Heidi-Schweiz an, dabei sind wir ein Hightech-Land.» Laax? «Ist wie das Silicon Valley.» Und das «Freestyle-Mekka der Welt». Gezielt setzt er auf Snowboarder. «Die Identifikation läuft bei Jungen nicht über Skirennfahrer. Wie Litfasssäulen sehen sie aus, das kommt nicht mehr an.»
Snowboarder allein retten die Alpen nicht. Eher die Chinesen. 300 Millionen stünden bis 2022 auf Ski. «Die Reichen reisen zu uns», so Gurtner. «Der Preis ist sekundär, wichtig ist der Service.»
Er biete alles aus einer Hand. Reise. Ski. Skischule. Unterkunft. Zum Shoppen karrt er sie nach Zürich an die Bahnhofstrasse.
Auf der Bank sitzen, nichts tun
Eine «Chilbi wie in Laax» will Werber und Autor Frank Baumann (59) nicht. In Arosa GR betreibt er das Humorfestival, «um die Vorsaison zu beleben». Bis vor zehn Jahren war er Skilehrer. «Das da draussen ist weisses Gold», sagt Baumann, blickt aus dem Fenster auf das verschneite Vals GR, wo er zeitweise wohnt. «Skiorte leben von Gästen, nicht von Luft und Liebe.» Ein tolles Gefühl locke an: «Schwerelos über Schnee zu gleiten. Das müssen wir propagieren.»
Mit Stolz, und jeder Ort eigenständig. «Es ist völlig blöd, wie gleich alle werben. Hat jedes Auto vier Räder und ein Lenkrad, wird der Töff aufregend.»
Wer Ferien vermarkte, erzeuge Sehnsucht. «Ferien sind eine todernste Sache», sagt Baumann. «Man geht in die Ferien, um in den Ferien zu leben, wie man leben würde, wenn man so leben könnte, wie man leben möchte.»
Berge müssten «ein unbeschwertes Erlebnis» bieten. Eine Idee wäre «Vals oben ohne», so Baumann. «Man geniesst ohne Helm, jeder fährt ruhig. Statt zu rasen, steht man, redet, trinkt heisse Suppe aus der Thermosflasche.»
Es sei nicht nötig, täglich auf Ski zu stehen. «Früher fuhr man Tageskarten raus, bei jedem Wetter. An den Arsch zu frieren, bringt heute kein Sozialprestige mehr.»
Hektik halte manchen von den Alpen fern. «Wir sollten mehr auf der Bank sitzen, in die Ferne schauen, nichts tun.» Slow Skiing statt Alpensauglattismus.
Wenig Bedeutung hätte der Ski-Rennsport. «Niemand rennt heute heim, um Skirennen zu sehen», sagt Baumann. «Zum Glück haben wir Lara Gut, dahinter wird es eng.»
Charakterköpfe wie einst – «Hemi, Collombin, Tresch» – fehlten. «Nun sehen alle gleich aus. Keiner ist hässlich. Marie-Theres Nadig hätte keine Chance mehr.»
Schnee tut weh, Kälte ist ein schöner Schmerz
Auf einer Tribüne aus Eis sitzt Bruno Fläcklin (43). Vor dem Tourismusdirektor der Lenzerheide steht ein Metallgestell. Abends hängt hier eine Leinwand. Ein Open-Air-Kino offeriert er diese Woche.
Läuft ein Film, ist es frostig. So lasse sich Natur erleben. «Man muss beim Skifahren den sportlichen Teil etwas rausnehmen», sagt Fläcklin. «Schnee ist das Erlebnis. Kinder sollen spüren, wie kalt er ist, dass er wehtut. Kälte ist ein schöner Schmerz, den man nicht vergisst.»
Unlängst legte er sich in den Neuschnee, wedelte einen Engel in den Schnee. «Bis die Kälte durch den Anzug drang, das ist mehr Wert als ein Like auf Facebook.» Nach einer Wanderung im Schnee mit kalten Fingern eine Cremeschnitte essen «berührt mehr als der Besuch bei Starbucks».
Solche Abwechslungen böten die Alpen. «Das darf etwas kosten», sagt Fläcklin. «Skifahren ist nicht günstig.» Selbstbewusst sagt er: «Wer Porsche fahren will, muss Porsche bezahlen.»
Österreich gilt als Konkurrent. Dort sei es günstiger und freundlicher. Und doch: «Gäste, die in Österreich waren, kommen zurück, weil hier die Qualität stimmt», so Fläcklin. «Schweizer sind nicht unfreundlicher, eher kühler. Geht in Österreich der Hotelier mit Schnaps rum, ist das sympathisch, in der Schweiz gilt er als Alkoholiker.»
Auf Olympische Spiele 2026 hofft Fläcklin. «Das stärkt die Infrastruktur, und es verbindet den Kanton.»
Skisport ist erotisch
Wie jetzt die Ski-WM in St. Moritz GR. Ariane Ehrat (55) steht im Zielgelände. Eine «Welle der Begeisterung» bringe der Grossanlass, sagt die Chefin von Engadin-St.-Moritz-Tourismus. «Klar ist die Schweiz eine Ski-Nation», über 40 Prozent der Bevölkerung fahre Ski oder betreibe Langlauf. «Skisport ist wieder erotisch», so die Ex-Skirennfahrerin. «Er strahlt etwas aus, bei dem man sich wohlfühlt.»
Was nicht ausreiche, mehr Menschen in die Berge zu holen. Millennials will sie anziehen, Jugendliche zwischen 20 und 30. «Überall in der Welt haben sie gleiche Werte, in São Paulo wie Peking stellen sie sich gleichen Fragen.»
Natur wollen sie erleben, gesund sein, sich mit Freunden vergnügen. «Es ist aber einfacher, junge Chinesen auf die Piste zu bringen als Europäer.» Deshalb wirbt sie in Peking, in Rio und Mexiko-Stadt. «Brasilianer und Mexikaner sind so schnell in Zürich wie in Denver.»
Ehrat wuchs in Schaffhausen auf. Wie bringt sie Kinder aus der Stadt auf Ski? «Sie müssen Schnee mögen und rasch Ski fahren lernen.» Was in drei Tagen möglich sei.
Zuletzt plädiert Ehrat auf Rückbesinnung. «Wintersport begann durch Leidenschaft.» Der ganze Alpenraum müsse «eine neue Sehnsucht für Berge entfachen». Da sei die Schweiz im Vorteil. «Wir sind das Original, hier entstand alles.» Nun soll es weitergehen. Es muss.
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