Schweizer Juden nach Amok in Halle
«Wir rechnen jeden Tag mit so einer Tat»

Juden in der Schweiz zeigen sich nicht überrascht von dem Attentat in Deutschland: Sie sind immer wieder mit Angriffen konfrontiert.
Publiziert: 13.10.2019 um 11:29 Uhr
1/7
Grosse Solidarität: Menschen in Halle legen vor der Synagoge Blumen nieder.
Foto: KEYSTONE
Cyrill Pinto
Cyrill PintoReporter SonntagsBlick

Stephan B. (27) hatte seine Tat minutiös geplant: In seinem Mietwagen lagen vier Kilogramm Sprengstoff, mehrere Schusswaffen sowie Munition. Damit fuhr er am Mittwochmittag vor die Synagoge in Halle, einer Stadt mit 240'000 Einwohnern im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt. In der Synagoge begingen rund 50 Gläubige den höchsten jüdischen Feiertag: Jom Kippur.

Einschusslöcher an der massiven Holztür des jüdischen Gebetshauses zeugen davon, wie sich der Attentäter gewaltsam Zutritt verschaffen und seinen Anschlag verüben wollte. Die Betenden, darunter der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Max Privorozki, verbarrikadierten die Tür zusätzlich – sie hielt stand und verhinderte so ein Massaker. Stattdessen schoss Stephan B. auf mehrere Passanten; zwei starben, zwei weitere wurden schwer verletzt.

Erst anderthalb Stunden später verhaftete die Polizei den Mörder. Sein Motiv laut eigener Aussage: Judenhass. Das Attentat begann B. mit den Worten: «Der Holocaust hat nie stattgefunden.»

Beschimpft oder geschlagen

Diese Tat erschüttert – und sie macht Angst. Juden in der Schweiz sagen zwar, sie seien Anfeindungen gewohnt. Doch die Tat von Halle hat eine neue Dimension, wie der in Zürich wohnhafte Modedesigner Adam Brody (51) hervorhebt. Auch er feierte am Mittwoch Jom Kippur. Deshalb habe er erst am folgenden Tag von dem schrecklichen Ereignis erfahren. Seine erste Reaktion? «Wir kennen das, eine solche Tat ist nicht ganz überraschend.» Immer wieder komme es zu Angriffen. Man werde beschimpft oder geschlagen. Und in Ländern wie Frankreich oder den USA ereigneten sich immer wieder Attentate mit Schusswaffen. «Deshalb sind wir aufmerksam.»

In der Schweiz stünden bei hohen Feiertagen wie dem vom Mittwoch Streifenwagen der Polizei vor der Synagoge. Das gebe ihm zwar ein gewisses Gefühl der Sicherheit, sagt Brody. «Beruhigend ist das aber nicht.» Man rechne immer damit, dass etwas geschieht.

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) geht schon seit längerer Zeit von einer verschärften Bedrohungslage aus. «Halle ist leider keine Ausnahme», sagt SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner (41). An speziellen Feiertagen sei deshalb ein erhöhtes Sicherheits­dispositiv vor Ort.

Doch das reiche nicht. «Um sich zu schützen, wenden die Gemeinden rund sieben Millionen Franken auf – für uns ist dieser Betrag eine grosse finanzielle Belastung.» 

500'000 Franken im Jahr

Der SIG begrüsst deshalb den Entscheid des Bundes von dieser Woche, für die Sicherheit religiöser Minderheiten jährlich 500'000 Franken aufzuwenden. Kantone und Gemeinden müssten nun nachziehen. «In Zürich haben wir bereits eine Zusage vom Kanton, in an deren Kantonen steht die Zu­sage noch aus», präzisiert Kreutner.

Anita Winter aus Zürich ist Präsidentin der Stiftung Gamaraal, die sich um Überlebende des Naziterrors kümmert. Nach dem Attentat von Halle meldeten sich Holocaust-Opfer bei ihr. «Sie sagten, die Tat erin­nere sie an die 1930er-Jahre!»

Winter beobachtet, wie Überlebende durch die aktuellen Ereignisse erneut traumatisiert werden und die alten Ängste nochmals erleiden. «Sie gingen davon aus, dass Gewalt an Juden nach dem Holocaust nicht mehr vorkommen werde», sagt sie.

Dies sei für sie eine ernste Warnung, fährt Winter fort. «Diese Ängste müssen als Gefahr erkannt werden, die nicht nur Jüdinnen und Juden betrifft, sondern unsere Gesellschaft als Ganzes.»

Noch mehr Aufklärung betreiben

Gerade in einer Zeit, in der die letzten Zeugen wegsterben, die den Schrecken der Nazizeit noch erlebt haben, und in der die Erinnerung an den Holocaust schwindet, müsse man über neue Wege der Wissensvermittlung nachdenken.

Deshalb will die von ihr geführte Stiftung noch mehr Aufklärung betreiben – gegen Antisemitismus, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Into­leranz.

Dem Zürcher Adam Brody ist dies dennoch nicht genug, er fordert zudem eine Verschärfung der Waffengesetze.

Stephan B., der Attentäter von Halle, sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Deutschlands Generalbundesanwalt wirft ihm unter anderem zweifachen Mord und Mordversuch in neun Fällen vor.

Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung in Berlin forderte gestern einheitliche Sicherheitskonzepte für jüdische Einrichtungen: «Der Staat tut zu wenig», sagte er. Und: «Wir müssen sofort handeln.»

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?