Aus blankem Judenhass plante Stephan B. in Halle ein Massaker, bei dem zwei Menschen starben. Der Schock darüber sitzt in ganz Deutschland tief. Alle rätseln über die Hintergründe. Fest steht einzig: Der Angriff ist der schwerwiegendste Vorfall seit langem, aber nicht der einzige. Der Parteivorsitzende der AfD bezeichnet die Nazi-Zeit jüngst als «Vogelschiss» in der deutschen Geschichte. In Berlin prügelt ein aus Syrien stammender Mann mit dem Gürtel auf zwei Juden ein, die Kippa tragen. Ein Politiker bezeichnet ein Holocaust-Mahnmal als «Denkmal der Schande». Doch in Frankreich ist die Lage für Menschen jüdischen Glauben noch bedrohlicher: Seit 2003 starben elf Juden in einer Serie von Attentaten, zuletzt im März 2018 eine 85-jährige Holocaust-Überlebende. Das hat Konsequenzen: Seit einigen Jahren verlassen bis zu 6500 Juden pro Jahr das Land Richtung Israel, USA und Kanada. Hauptsache raus aus Europa.
Physische Gewalt und steigende Angst
Und in der Schweiz? Wie steht es hier um den Antisemitismus? Auch hier gibt es Fälle, in denen Judenhass in physische Gewalt umschlägt: Im letzten Frühling lief ein Mann einem jüdisch-orthodoxen Vater und dessen Sohn hinterher und schrie: «Euch schneide ich die Kehle auf.» Im Sommer ging ein anderer mit einem Messer auf eine Gruppe orthodoxer Juden los. Beides auf offener Strasse, mitten in Zürich. In Basel warf ein Täter vier mal innerhalb weniger Monate Steine in die Fenster einer jüdischen Metzgerei und riss einmal den Buchstaben «J» der Beschriftung «Jüd. Genossenschafts-Metzgerei» runter. Unbekannte demolierten zudem im Dezember das Fenster der Synagoge.
Was macht das mit den Bürgern jüdischen Glaubens in der Schweiz. Wir wollten es genau wissen und haben zahlreiche Gespräche mit jüdischen Menschen geführt. Das Fazit ist beunruhigend.
«In der Schweiz ist der Antisemitismus unterschwellig», sagt Anna Rabin, 39, Museumsmitarbeiterin.
«Schweizer sind extrem anständig und trotzdem haben sie antisemitische Bilder im Kopf», meint Adam Brody, 51, Modedesigner.
«Es ist nicht so, dass es jeden Tag passiert, aber ich habe schon ein paar dutzende Male schlechte Erfahrungen gemacht, aber», Zev Marilus, 37, Zeitungsangestellter.
Ein Grossteil des Judenhasses entleert sich übers Internet. Mit Aussagen wie «Mir müend alli Jude umbringe. Gaschammere mit däne» oder über Apps wie Jodel, die vor allem von Studenten genutzt wird: «Ich dörf so Witz verzelle, min Grossvater isch imne KZ gstorbe – er isch vom
In der Schweiz kam es ab dem 13. Jahrhundert in weiten Landesteilen zu Vertreibungen und Gewalt gegen Juden. Diese gingen auf Wuchervorwürfe und Legenden wie Hostienschändung und Ritualmorde zurück. Ab dem 16. Jahrhundert gab es auf dem Gebiet der heutigen Schweiz nur noch wenige Juden. 1737 schränkte die eidgenössische Tagsatzung das Niederlassungsrecht auf die beiden Aargauer Dörfer Endingen und Lengnau ein. In der helvetischen Republik verbesserte sich der rechtliche Status für Juden, doch erst die Teilrevision der Bundesverfassung 1866 sicherte ihnen die vollen Bürgerrechte zu. Trotzdem hatten antisemitisches Gedankengut weiterhin einen starken Einfluss auf die Politik des Bundesstaats. Sie führte unter anderem zum Schächtverbot 1893. Während des Zweiten Weltkriegs betrieb die offizielle Schweiz eine in Teilen antisemitische Politik, in dem sie der Kennzeichnung jüdischer Personen mit dem J-Stempel zustimmte und jüdische Flüchtlinge an der Grenze zurückwies.
Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz.
In der Schweiz kam es ab dem 13. Jahrhundert in weiten Landesteilen zu Vertreibungen und Gewalt gegen Juden. Diese gingen auf Wuchervorwürfe und Legenden wie Hostienschändung und Ritualmorde zurück. Ab dem 16. Jahrhundert gab es auf dem Gebiet der heutigen Schweiz nur noch wenige Juden. 1737 schränkte die eidgenössische Tagsatzung das Niederlassungsrecht auf die beiden Aargauer Dörfer Endingen und Lengnau ein. In der helvetischen Republik verbesserte sich der rechtliche Status für Juden, doch erst die Teilrevision der Bundesverfassung 1866 sicherte ihnen die vollen Bürgerrechte zu. Trotzdem hatten antisemitisches Gedankengut weiterhin einen starken Einfluss auf die Politik des Bundesstaats. Sie führte unter anderem zum Schächtverbot 1893. Während des Zweiten Weltkriegs betrieb die offizielle Schweiz eine in Teilen antisemitische Politik, in dem sie der Kennzeichnung jüdischer Personen mit dem J-Stempel zustimmte und jüdische Flüchtlinge an der Grenze zurückwies.
Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz.
Wachturm gheit.» Die Medien kennen das Problem. Auch die Blick-Gruppe. Bei Artikeln zu Israel oder dem Judentum gilt auf der Redaktion erhöhte Wachsamkeit. Postings mit antisemitischem Inhalt werden konsequent nicht freigeschaltet. Zuletzt sorgten Artikel über den US-Investor George Soros für Hetzkommentare.
Eine Befragung des Bundesamts für Statistik zeigt, dass die Schweiz in Sachen Antisemitismus keine Insel in Europa ist. Fünf bis zehn Prozent der Schweizer haben ein klar antisemitisches Weltbild, weitere rund 20 Prozent hegen zwar Vorurteile, äussern diese aber kaum. Genauer kann man Judenhass hierzulande nicht messen. Anders als Frankreich oder Deutschland führt die Schweiz keine offizielle Statistik zu antisemitisch motivierten Straftaten. Die Polizei ist nicht dazu verpflichtet, das Motiv für eine Tat aufzunehmen.
Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) zählte 2017 39 Verstösse, doch es melden sich längst nicht alle, die auf der Strasse beschimpft werden. «Die Dunkelziffer ist hoch», sagt SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner.
Für Schweizer Juden ist Hass Teil des Alltags
Zev Marilus geht in der traditionellen jüdisch-orthodoxen Kleidung mit Hut und Mantel zur Synagoge, er erlebt immer wieder, dass jemand das Autofenster herunterkurbelt und «Saujude» ruft. «Wissen Sie, in Zürich wächst man damit auf, das ist normal», sagt er. Eine schlaflose Nacht hatte er wegen etwas anderem: Einmal warf ihm ein lokaler Politiker am Telefon lauter antisemitische Vorurteile an den Kopf. Zuletzt bemerkte dieser noch, dass man die Juden nicht umsonst schon im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen verbrannt habe.
Adam Brody kam vor 22 Jahren von Israel in die Schweiz, hat ein eigenes Atelier für Kleiderdesign, seine zwei Kinder gehen in eine reguläre Schweizer Schule und er trägt keine Kippa. Einmal mähte er am Samstag den Rasen und eine Nachbarin ging auf ihn zu, um sich zu erkundigen, ob Brody auch wirklich am Shabat arbeiten dürfe. Ab und zu sagen Kunden zu ihm, dass die Juden ja genug verdienen würden. Ähnliches bekommen auch seine Söhne von Schulkollegen zu hören. «Dabei schufte ich wie jeder andere auch», sagt er und schüttelt die Erinnerung gleich wieder ab.
«Anders gehts nicht», sagt Anna Rabin. «Man muss ja weiterleben.» Sie ist jüdisch-orthodox, kam 2004 aus Deutschland in die Schweiz, hat seit zwei Monaten den Schweizer Pass und lebt mit ihrem Ehemann und ihren vier Kindern in Basel. Einmal schubste eine Frau Anna Rabins Mann auf dem Trottoir herum, ein anderes Mal baute sich ein Mann vor ihr auf und brüllte ihr «Juda» ins Ohr. Sie hat ihre Lehren daraus gezogen: Möglichst nicht mehr auffallen. Damit sie keine Angriffsfläche bietet. Deshalb zuckt sie zusammen, wenn ihre Kinder im Sommer in der Migros nach einem koscheren Glace fragen.
All diese Vorfälle fanden nie Eintrag im Antisemitismus-Register des SIG. «Gewöhnlich meldet ein jüdischer Mensch keinen Antisemitismus», sagt Zev Marilus. Die ältere Generation noch viel weniger. Sie finden sich damit ab, weil es immer so war. «Antisemitismus zu ertragen, ist der historische jüdische Weg. Das bringt man nicht so einfach aus den Leuten raus», sagt Marilus.
Antisemitismus unter dem Deckmantel der Israel-Kritik
Am weitesten verbreitet ist Antisemitismus unter Rechtsradikalen. Aber nicht ausschliesslich, wie Daniel Gerson vom Institut für Judaistik der Universität Bern sagt: «Heute erscheint Antisemitismus häufig unter dem Deckmantel der Israel-Kritik.» Vergangenes Jahr machten linke Aktivisten an der Uni Bern als falsche israelische Soldaten verkleidet Ausweiskontrollen – um für einen Boykott Israels zu werben.
Gerson gibt zudem zu denken: «Mit der Ablehnung von allem Fremden vergiften auch die rechten Parteien die Atmosphäre und legen so den Boden für Antisemitismus.» Die gleichen Kreise sprächen immer wieder von einem «importierten Antisemitismus», den die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten hierherbrächten. Dabei geht vergessen: Viele der antisemitischen Angriffe in Deutschland und Frankreich werden von jungen Migranten der zweiten und dritten Generation verübt. «Wenn Flüchtlinge hierherkommen, haben sie andere Sorgen als die Juden.»
Und doch: Bei Schweizer Juden trauen sich immer weniger, ihren Glauben öffentlich auszuweisen. Es gibt jüdische Kindergärten in der Schweiz, die den Eltern empfehlen, ihren Kleinen «unverfängliche Kopfbedeckungen» zu besorgen. Das passt in den europäischen Trend. Eine kürzlich erschienene Studie zeigt: Neun von zehn Juden fühlen sich in Europa unsicher.
«Mich würde es nicht wundern, wenn in Basel einmal ein Tram in die Luft gejagt würde», sagt Anna Rabin.
«Wenn ich heute zur Synagoge gehe, schaue ich mich mehr um als früher und wechsle öfter dass Trottoir», sagt Zev Marilus.
«Wer antisemitische Aussagen im Netz macht oder dort droht, wird das später vielleicht auf der Strasse tun», sagt Jonathan Kreutner vom SIG. Ihn alarmiert, dass früher anonym gehetzt wurde. «Heute wird so etwas oft mit dem richtigen Namen gepostet.»
Bis zu sieben Millionen für die Sicherheit
Mit der Angst steigt das Sicherheitsbedürfnis. Kaum eine jüdische Institution in der Schweiz, kaum ein Fest, das nicht durch Sicherheitsleute oder Kameras überwacht wird. Das kostet landesweit zwischen sechs bis sieben Millionen Franken pro Jahr. Alleine in Zürich sind es 1,5 Millionen, in Basel 800 000 Franken. Bislang schultert die jüdische Gemeinschaft alles alleine. Das soll sich ändern. Im Dezember hat der Kanton Basel-Stadt beschlossen, 750 000 Franken an die Sicherheitskosten der dortigen Gemeinde zu zahlen. Und vor wenigen Tagen gab der Bundesrat bekannt, dass er bis zu 500 000 Franken für den Schutz von Minderheiten aufwenden will. Der Druck auf andere Kantone steigt.
Hoffentlich kommt die Reaktion nicht zu spät.
Wohin Antisemitismus führen kann, zeigte die Stiftung Gamaraal. Sie würdigte im Rahmen einer Ausstellung mit Videos, Texten und Porträts einige der letzten der rund 450 Holocaustüberlebenden in der Schweiz. Genau sie sind nun besorgt über den wachsenden Antisemitismus und fühlen sich heute an die Zeit von 1930 erinnert, wie sie in Gesprächen mit Stiftungspräsidentin Anita Winter immer wieder sagen. «Überlebende diskutieren derzeit untereinander, ob sie das Land verlassen sollen.»
Uffa Jensen forscht zu Antisemitismus an der Technischen Universität Berlin
Wird Antisemitismus salonfähig?
Vor allem das Internet, und insbesondere die sozialen Medien, haben eine Veränderung der Lebenswelt gebracht, die sich direkt auf die Juden auswirkt. Zum einen können sich heute Antisemiten zusammenfinden, die vorher nicht mal gewusst hätten, dass es Gleichgesinnte gibt. Zum anderen werden im Netz Haltungen geteilt, die früher Juden nie zu Ohren gekommen wären. Plötzlich ist Antisemitismus sichtbarer und der jüdischen Bevölkerung bewusster.
Hat sich durchs Internet die Grenze des Sagbaren verschoben?
Natürlich. Da werden nicht einfach Aussagen gemacht, die früher am Stammtisch wohl weniger besprochen worden sind. Im Internet entsteht eine ganz neue Dimension von Antisemitismus.
Kann virtueller Hass in realen Hass umschlagen?
Ja, wir haben Hinweise darauf, dass sich in Deutschland während der Flüchtlingsdebatte erste Netzwerke von gewaltbereiten rechten Antisemiten übers Netz mobilisiert und Aktionen geplant haben. Da sprechen wir jetzt von den Radikalen. Das grössere Problem ist, dass heute viel mehr Leute aus der Gesamtgesellschaft durchs Internet und die dort gemachten Äusserungen plötzlich das Gefühl haben, Stellung nehmen zu müssen und dies auch radikal tun. Manchmal werden im Netz auch Versatzstücke von antisemitischen Vorurteilen verwendet, die man fast nicht mehr wiedererkennt.
Welche?
Bei Debatten über Globalisierung zum Beispiel fällt in den Kommentaren immer wieder der Ausdruck «die neue Weltordnung». Da muss man nicht mehr von Juden sprechen, die die Welt beherrschen. In diesem Ausdruck schwingt bei vielen aber genau das schon mit.
Ab wann ist Kritik an Israel antisemitisch?
Es gibt die 3-D-Regel, also die drei Kriterien Dämonisierung, Delegitimisierung und Doppelmoral, an denen man Aussagen messen kann. Dämonisierung ist zum Beispiel, wenn man die israelische Politik mit jener der Nazis gleichsetzt. Delegitismisierung bedeutet, dass man Israel das Existenzrecht abspricht. Doppelmoral ist, wenn man Uno-Resolutionen gegen Menschenrechtsverletzungen für Israel macht, aber andere Staaten, die das gleiche tun, nicht zur Rechenschaft zieht.
Ist Antisemitismus ein Phänomen der sozial schwächeren Schicht?
Diese Vorstellung ist verbreitet, aber falsch. Sie stützt sich auf die Hoffnung, dass Bildung vor Vorurteilen schützt. Doch die ideologischen Köpfe des Nationalsozialismus waren akademische Eliten. Und wir wissen: Auch heute schreiben Leute mit Professorentitel jüdischen Organisationen Hass-Emails.
Uffa Jensen forscht zu Antisemitismus an der Technischen Universität Berlin
Wird Antisemitismus salonfähig?
Vor allem das Internet, und insbesondere die sozialen Medien, haben eine Veränderung der Lebenswelt gebracht, die sich direkt auf die Juden auswirkt. Zum einen können sich heute Antisemiten zusammenfinden, die vorher nicht mal gewusst hätten, dass es Gleichgesinnte gibt. Zum anderen werden im Netz Haltungen geteilt, die früher Juden nie zu Ohren gekommen wären. Plötzlich ist Antisemitismus sichtbarer und der jüdischen Bevölkerung bewusster.
Hat sich durchs Internet die Grenze des Sagbaren verschoben?
Natürlich. Da werden nicht einfach Aussagen gemacht, die früher am Stammtisch wohl weniger besprochen worden sind. Im Internet entsteht eine ganz neue Dimension von Antisemitismus.
Kann virtueller Hass in realen Hass umschlagen?
Ja, wir haben Hinweise darauf, dass sich in Deutschland während der Flüchtlingsdebatte erste Netzwerke von gewaltbereiten rechten Antisemiten übers Netz mobilisiert und Aktionen geplant haben. Da sprechen wir jetzt von den Radikalen. Das grössere Problem ist, dass heute viel mehr Leute aus der Gesamtgesellschaft durchs Internet und die dort gemachten Äusserungen plötzlich das Gefühl haben, Stellung nehmen zu müssen und dies auch radikal tun. Manchmal werden im Netz auch Versatzstücke von antisemitischen Vorurteilen verwendet, die man fast nicht mehr wiedererkennt.
Welche?
Bei Debatten über Globalisierung zum Beispiel fällt in den Kommentaren immer wieder der Ausdruck «die neue Weltordnung». Da muss man nicht mehr von Juden sprechen, die die Welt beherrschen. In diesem Ausdruck schwingt bei vielen aber genau das schon mit.
Ab wann ist Kritik an Israel antisemitisch?
Es gibt die 3-D-Regel, also die drei Kriterien Dämonisierung, Delegitimisierung und Doppelmoral, an denen man Aussagen messen kann. Dämonisierung ist zum Beispiel, wenn man die israelische Politik mit jener der Nazis gleichsetzt. Delegitismisierung bedeutet, dass man Israel das Existenzrecht abspricht. Doppelmoral ist, wenn man Uno-Resolutionen gegen Menschenrechtsverletzungen für Israel macht, aber andere Staaten, die das gleiche tun, nicht zur Rechenschaft zieht.
Ist Antisemitismus ein Phänomen der sozial schwächeren Schicht?
Diese Vorstellung ist verbreitet, aber falsch. Sie stützt sich auf die Hoffnung, dass Bildung vor Vorurteilen schützt. Doch die ideologischen Köpfe des Nationalsozialismus waren akademische Eliten. Und wir wissen: Auch heute schreiben Leute mit Professorentitel jüdischen Organisationen Hass-Emails.