Frau Vuille, wie haben Sie die Feiertage verbracht?
Hélène Vuille: An Weihnachten waren ich und mein Mann wie immer im Hospiz. In einem Heim für dreissig Männer, die nach einer langen Reise durch zahlreiche soziale Institutionen, psychiatrische Kliniken und das Gefängnis dorthin finden – viele lebten jahrelang auf der Strasse. Wir feierten also mit Menschen, die man in unserer Gesellschaft nicht sieht, weil man sie nicht sehen will – und mit denen kaum jemand etwas zu tun haben möchte. An beiden Abenden freuten sich natürlich alle auf ein feines Essen.
An solchen Festtagen isst die Schweiz Filet im Teig und schlürft Champagner: Was stand im Hospiz auf dem Tisch?
Kartoffelsalat und andere Salate, dazu Bündnerfleisch, Aufschnitt, kalt aufgeschnittener Braten und knusprige Brötchen. Als Getränke gabs Softdrinks und ausnahmsweise Rotwein. An Silvester wird jeweils Lotto gespielt, und um Mitternacht gibt es heisse Käseküchlein. Das Dessertbuffet ist immer das Highlight. Denn Crèmeschnitten, Fruchttörtchen und Schokoladenkuchen erhalten diese Menschen unter dem Jahr selten.
Sie gedenken überdies der Menschen, die nicht mehr da sind ...
Genau. Wir legen jeweils vor dem Christbaum eine Schweigeminute für die Verstorbenen ein. Alle wissen, welche Stühle leer geblieben sind. Oft erzählen wir uns Anekdoten, die an jene erinnern, die letztes Jahr noch mit dabei waren.
Was stand auf den Wunschlisten, die Ihnen im Vorfeld der Feiern ausgehändigt werden?
Nidelzältli und Bärendreck. Kiwis – ihres Geschmackes wegen und weil sie weich sind. Frischhalteboxen. Hustentee, warme Handschuhe, Schals und genug grosse Finken für die geschwollenen Füsse.
Seit 18 Jahren sorgen Sie dafür, dass bedürftige Menschen von übrig gebliebenen Nahrungsmitteln profitieren. Gabs einen Schlüsselmoment für dieses Engagement?
Absolut. Ich stand irgendwann in einem Lebensmittelgeschäft, es war kurz vor Ladenschluss, und ich beobachtete, wie sämtliche Tagesfrischprodukte in ein Fass gekippt und entsorgt wurden. Ich war entsetzt. Ich dachte immer, Esswaren kommen in den Magen – nicht in den Abfallkübel.
Heute gelten Sie als Schweizer «Foodwaste»-Pionierin. Sie wehren sich gegen die Verschwendung von Lebensmitteln. Wann begann der Kampf richtig?
Das war Ende der 1980er-Jahre. Ich wurde schon an besagtem Abend aktiv und suchte das Gespräch mit dem Chef. Nach anderthalbstündiger Diskussion willigte er per Handschlag ein, Lebensmittel künftig an obdachlose Menschen zu verteilen. Aber erst nach Jahren konnte ich das Projekt auf andere Filialen ausdehnen. Der dafür erforderliche Prozess war schwierig, die Akten füllen einen dicken Bundesordner.
Wie ging es weiter?
Ich schrieb 2012 mein erstes Buch zum Thema – und mein Engagement erhielt sofort einen neuen Stellenwert. Ein Vertrag zwischen mir und der Caritas kam zustande. Heute müssen alle Filialen der Migros Genossenschaft Zürich – und inzwischen auch der Migros Genossenschaft Aare – ihre Tagesfrischprodukte zur Verteilung an unsere Fahrer abgeben. Dazu gehören Brote, Wähen, Feingebäck und Snacks, Sandwiches, Canapés, Salat- und Fruchtportionen, Birchermüesli, Torten und Patisserie.
Was ist mit Gemüse, Früchten und Milchprodukten?
Das sind keine Tagesfrischprodukte, die Anbieter müssen Gemüse und dergleichen nicht am gleichen Abend abgeben. Sie können in der Folge tagsüber eingesammelt und verteilt werden – was vieles vereinfacht.
Schon vor Jahren versuchten Sie, Ihr Projekt auf andere Kantone und Verkaufsorganisationen auszubreiten. Bislang ohne Erfolg. Woran liegt es?
Viele Verkaufsorganisationen sind nicht bereit, mich zu empfangen. Man will keine Veränderungen, meist mit der Begründung, es fehle an Zeit und Personal, um sich meinem Anliegen anzunehmen. Auch Zusatzkosten und Logistik werden ins Feld geführt.
Verhindern auch rechtliche Aspekte, dass Grossverteiler ihre Waren ohne Riesenaufwand abgeben können?
Bei Tagesfrischprodukten lässt sich das Problem tatsächlich nur mit einer Gesetzesänderungen auf nationaler Ebene lösen. Man müsste Verkäufer dazu verpflichten, frisch zubereitete Lebensmittel gratis an zertifizierte Heime oder Bedürftige abzugeben. Dazu müsste man jedoch die Handels- und Gewerbefreiheit samt den damit verbundenen Gesetzen anpassen. Bereits 2003 – nachdem ich einen Vortrag im Bundesamt für Gesundheit halten durfte – versprachen namhafte Politikerinnen und Politiker, mich zu unterstützen. Im Jahr 2006 wurde ich in dieser Hinsicht erneut aktiv, doch den Worten folgten abermals keine Taten. Anders regionale Vertreter. In Zürcher Gemeinden wie Birmensdorf, Dietikon und Bülach erhielt ich sofort grosse Unterstützung.
Wie viele Menschen profitieren heute von Ihren Bemühungen?
Jedes Jahr Tausende. In den Gemeinden haben arme Menschen nun die Möglichkeit, mit einer Berechtigungskarte oder einer sogenannten Kulturlegi an einem oder zwei Abenden pro Woche Lebensmittel abzuholen. Die Legi erhalten sie vom Sozialamt oder von den Kirchen. Auf regionaler und lokaler Ebene profitieren heute zehn Obdachlosenheime in der Stadt Zürich und verschiedene Gemeinden im Kanton Zürich von der Gratisabgabe der Tagesfrischprodukte.
Was ist schuld, dass täglich tonnenweise Lebensmittel übrig bleiben?
Die sogenannte Verkaufssicherheit. Sie muss bis am Abend gewährleisten, dass die Kunden bis zum Ladenschluss die volle Auswahl haben – es darf also keine halbvolle oder gar leere Regale geben. Bei den Bäckereien, die in unserem Projekt mitmachen, ist das nicht der Fall. Und was trotzdem übrig bleibt, erhalten wir zur Verteilung.
Kann man sagen: Je reicher eine Gesellschaft ist, desto mehr Lebensmittel werden weggeworfen?
Das ist absolut zutreffend.
Jene, die am Rande unserer Gesellschaft leben, gehören zu Ihrem Alltag: An sie verteilen Sie das Essen, ihnen hören Sie zu und nehmen an ihrem Schicksalen teil. Welche Erfahrungen und Einsichten haben Sie dabei am stärksten geprägt?
Es sind Menschen, die mir zeigen, dass man auch im sogenannten Scheitern etwas finden kann: ein Zustand, in dem es keine Erwartungen mehr gibt und keine Voreingenommenheit, dafür ehrliches Verständnis füreinander. Weil es im Nichts nichts zu verlieren gibt. Für mich gehören die vielen Begegnungen mit diesen Menschen zu den wichtigsten überhaupt. Natürlich gibt es auch Streitereien untereinander. Aber ihre Beziehungen beruhen meiner Erfahrung nach auf Menschlichkeit und auf Hilfsbereitschaft. Tatsächlich kenne ich keine andere Gesellschaftsgruppe, die über eine derart hohe Sozialkompetenz verfügen wie jene, die am Rand der Gesellschaft leben.
Hat sich der Umgang der Gesellschaft mit Randständigen über die Jahre verändert?
Ja. Vieles wird in der heutigen Zeit über das Geld definiert, über den Job, die eigene Leistungsfähigkeit. Wie schnell sich das ändern kann, darüber geben jene Menschen Auskunft, die obdachlos werden. Dass ein fulminanter Absturz fast jeden treffen kann, wollen viele nicht wahrhaben. Dabei genügt ein Schicksalsschlag und eine Verknüpfung unglücklicher Umstände. Randständige werden ausserdem oft mit mangelndem Respekt behandelt, wir ignorieren ihre Existenz.
Wenn ein Physikprofessor ins Elend abgleitet: Hadert er mehr mit dem Schicksal als jemand, der schon immer randständig war?
Nein. Das Leben auf der Strasse ist für alle gleich hart, ganz egal, was zuvor war. Die einen trauern um ein Leben, das sie nie hatten. Die anderen um ein Leben, das sie verloren haben.
Trotzdem gibt es Bedürftige, die nichts von einem Dach über dem Kopf und von Ihren Festmahlzeiten wissen wollen.
Absolut. Es gibt Menschen, die bleiben selbst an Silvester und Weihnachten lieber draussen und wollen allein bleiben. Weil sie keine festen Strukturen mehr ertragen, weil sie das normale Leben verlernt haben.
Weshalb?
Sie haben einen anderen Rhythmus, und die Vorstellung von menschlicher Wärme und Geborgenheit ist ihnen derart fremd geworden, dass sie damit seelischen Schmerz verbinden. Andere haben ihren Frieden und ihre Freiheit in der Natur gefunden und leben dort ein erfülltes Leben. Die sind aber eher Ausnahmen.
Zu denen zählt der Flussmann, den Sie in Ihrem neuen Buch beschreiben und dem Sie jeweils im Sommer Glacékübeli mit seiner Lieblingssorte vorbeibringen.
Ja. Jedes Mal, wenn ich den Mann besuche, steht er zwischen verschiedenen Ahornbäumen, Eichen, Weiden, Birken und Sträuchern, die mit ihren weit verzweigten Wurzeln bis zum Ufer reichen. Dort, wo sich der Flussmann seine ureigene Welt, eine neue Heimat erschaffen hat. Seine Nachbarn sind Eichhörnchen, er kennt sie alle. Auch die Fledermäuse, die sich tagsüber in den Baumhöhlen ausruhen und ihr Versteck erst in der Dämmerung verlassen. Wenn ich an ihn denke, sehe ich seine Feuerstelle, die ihn wärmt, und die lang gezogene Biotoplandschaft mit dem Wasserdurchlauf: eine durchdachte, von Hand angelegte Oase, in der kleinere Wasserbewohner aufwachsen, geschützt vor den grösseren Jägern.
Was verbinden Sie damit?
In dieser Stube am Fluss zeigen sich die Regeln des Miteinanders und nicht des Nebeneinanders. Alle Lebewesen scheinen sich hier ihrer Zusammengehörigkeit bewusst zu sein.
Wissen Sie, wie dieser Mann die Feiertage verbracht hat?
Nein. Aber ich weiss, dass er sich eins fühlt mit der Einsamkeit, der Ruhe und der Flusslandschaft. Sie ist ihm heilig, sie zeigt ihm den Sinn des Lebens.
Hélène Vuille (63) wuchs in Einsiedeln SZ auf. Das Schicksal lehrte sie früh, wie fragil das Glück ist: 17-jährig erlitt sie einen Unfall, der sie fast das Leben kostete und den Traum von einer Karriere als Pianistin platzen liess. Sie fand ihr Glück in der Arbeit mit Menschen und Musik und erkannte ihre Berufung vor 18 Jahren, als sie sich mit Foodwaste zu befassen begann. Vuille rettet jährlich mehrere Tonnen Lebensmittel vor der Vernichtung. Davon profitieren Tausende Menschen. Hélène Vuille ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt im Zürcher Limmattal.
1998 Das Thema Nahrungsmittelverschwendung bringt Hélène Vuille vor 18 Jahren dazu, sich mit Menschen in schwierigen Situationen auseinanderzusetzen und sich für sie zu engagieren.
2012 In diesem Jahr schreibt die Einsiedlerin ihr erstes Buch – und erreicht, dass sich ein Grossverteiler vertraglich dazu verpflichtet, übrig gebliebene Tagesfrischprodukte nicht mehr wegzuwerfen, sondern an Bedürftige abzugeben.
2016 Ihr zweites Buch «Die Brückenbauerin» (Verlag Wörterseh) erscheint. Darin erzählt Vuille von Begegnungen mit jenen Menschen, denen sie eine Stimme und ein Gesicht geben möchte. Gleichzeitig setzt sie sich für eine Gesetzesänderung ein, die helfen soll, den Lebensmittelabfallberg schweizweit stärker zu reduzieren.
Hélène Vuille (63) wuchs in Einsiedeln SZ auf. Das Schicksal lehrte sie früh, wie fragil das Glück ist: 17-jährig erlitt sie einen Unfall, der sie fast das Leben kostete und den Traum von einer Karriere als Pianistin platzen liess. Sie fand ihr Glück in der Arbeit mit Menschen und Musik und erkannte ihre Berufung vor 18 Jahren, als sie sich mit Foodwaste zu befassen begann. Vuille rettet jährlich mehrere Tonnen Lebensmittel vor der Vernichtung. Davon profitieren Tausende Menschen. Hélène Vuille ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt im Zürcher Limmattal.
1998 Das Thema Nahrungsmittelverschwendung bringt Hélène Vuille vor 18 Jahren dazu, sich mit Menschen in schwierigen Situationen auseinanderzusetzen und sich für sie zu engagieren.
2012 In diesem Jahr schreibt die Einsiedlerin ihr erstes Buch – und erreicht, dass sich ein Grossverteiler vertraglich dazu verpflichtet, übrig gebliebene Tagesfrischprodukte nicht mehr wegzuwerfen, sondern an Bedürftige abzugeben.
2016 Ihr zweites Buch «Die Brückenbauerin» (Verlag Wörterseh) erscheint. Darin erzählt Vuille von Begegnungen mit jenen Menschen, denen sie eine Stimme und ein Gesicht geben möchte. Gleichzeitig setzt sie sich für eine Gesetzesänderung ein, die helfen soll, den Lebensmittelabfallberg schweizweit stärker zu reduzieren.
Helene Arnet/Hélène Vuille: «Die Brückenbauerin – Die Geschichte und die Geschichten der Hélène Vuille», 192 Seiten, Verlag Wörterseh.