Der Appenzeller Carl Lutz war ein scheuer Mensch. Während des Zweiten Weltkriegs war er Schweizer Diplomat in Budapest und überstand die Bombardements in einem feuchten, dunklen Keller. Nach dem Krieg kehrte er in die Heimat zurück. Dort erwartete ihn die offizielle Schweiz mit Fragen. Unter anderem zu einem Glas Orangensaft auf seiner Spesenabrechnung. Lutz trank den Saft auf seiner Rückreise aus Ungarn in einem Hotel. Die offizielle Schweiz fragte ihn, ob das wirklich nötig war. Viel schwerer wog die Rüge wegen Kompetenzüberschreitung. Sie bedeutete für ihn das Karriereende, er bekam danach nur noch unbedeutende Jobs. Was Lutz getan hat: Juden vor der Ermordung durch die Nazis zu retten. Zehntausende von jüdischen Männern, Frauen und Kindern.
Agnes Hirschi (82) erzählt am Telefon in breitestem Berndeutsch, wie das war in diesem Keller in Budapest, als die Bomben fielen. Hirschi lebte als Kind in Ungarn, ist Jüdin. Die damals Sechsjährige ist eine von Zehntausenden, denen Lutz das Leben gerettet hat.
Doch Agnes Hirschis Verbindung zu ihrem Retter riss nach dem Krieg nicht ab. Lutz ist ihr Stiefvater. Er heiratete nach dem Krieg ihre Mutter. Zusammen zogen die drei nach Bern.
Als Carl Lutz 1975 starb, gab Agnes Hirschi ihm auf dem Totenbett ein Versprechen ab: Seine Rettungsaktion soll nicht in Vergessenheit geraten. Hirschi hat das Versprechen gehalten. Soeben ist ihr Buch «Unter Schweizer Schutz» erschienen. Zeitzeugen und Überlebende aus verschiedenen Ländern kommen darin zu Wort. Die Überlebende Elizabeth Rieder aus New York, die 2015 im Alter von 87 Jahren starb, beschreibt es so: «Die Vergangenheit ist wie eine Hintergrundmusik, etwas, was mir einfällt, wenn ich gewöhnliche Dinge tue. Wenn ich zum Beispiel dusche, erinnere ich mich manchmal daran, dass viele Menschen getötet wurden, weil sie sich einer Eisdusche unterziehen mussten und dann in der Kälte ausgesetzt wurden, bis sie erfroren. (…) Dann frage ich mich oft, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich eine nichtjüdische Ungarin gewesen wäre. Hätte ich den Mut gehabt, Juden zu helfen? Diese Frage beschäftigt mich oft. Und wissen Sie, die Wahrheit ist, ich glaube nicht, dass ich den Mut gehabt hätte, und das ist einer der Gründe, warum ich Carl Lutz für seinen moralischen Mut so bewundere.»
Die Schweizer Schutzbriefe
Carl Lutz kam im Januar 1942 als Schweizer Diplomat nach Budapest und vertrat die Interessen von Staaten wie Grossbritannien. Am 19. März 1944 marschierten die Deutschen in Ungarn ein. Adolf Eichmann begann umgehend damit, Juden zu deportieren. 564'000 Menschen kostete dieser fanatische Plan allein in Ungarn das Leben.
Lutz handelte, als er sah, wie schutzlos die Juden den Nazis ausgeliefert waren. Als Vertreter der Interessen von Grossbritannien, das die Auswanderung nach Palästina kontrollierte, sah er eine Möglichkeit, Schutzbriefe für die Auswanderung nach Palästina auszustellen. Nach dem Einmarsch der Nazis umfasste das Auswanderer-Kontingent noch 7800 Personen. Doch Lutz stellte die Schutzbriefe nicht für Einzelpersonen, sondern für ganze Familien aus. Und rettete mit diesem Trick Zehntausende. Später versteckte er Tausende Juden in Häusern, die unter dem Schutz der Schweiz standen. Die Schweiz verfügte über 76 solcher Häuser.
Die ungarische Philosophin Agnes Heller hat ihren Vater und viele andere Verwandte im Holocaust verloren. Sie selber hat mit einem Schweizer Schutzbrief überlebt. «Ich liebe solche Leute wie Carl Lutz. Sie sind gerechte Leute. (…) Für Carl Lutz war es eine Infragestellung üblicher diplomatischer Regeln. Falsche Papiere, Geburtszeugnisse und Ehezeugnisse auszufüllen, ging gegen die Ehre seiner Position. Doch für ihn war es wichtiger, ein Leben zu retten, als der institutionalisierten Ethik zu gehorchen», so Heller, die letztes Jahr im Alter von 90 Jahren starb.
Der Schmerz des Erinnerns
Auch der Zürcher Ivan Gabor Wigdorowits ist Teil des Buchs. Er, der später in die Schweiz kam, wurde während der Judenverfolgung zur Zwangsarbeit aufgeboten. Obwohl er krank war, musste er 160 Kilometer marschieren, um dann 80 Kilogramm schwere Mehlsäcke auf dem Rücken drei Stockwerke die Treppen hinaufzutragen. Fiel ein Sack runter, gab es einen Peitschenhieb. Wigdorowits konnte dank eines Schweizer Schutzbriefes aus der Zwangsarbeit befreit werden und nach Budapest zurückkehren. Wigdorowits starb 92-jährig. An seinem 90. Geburtstag blickte er auf sein Leben zurück: «Vieles ist in dieser Zeit geschehen, und vieles habe ich erlebt. Aber nichts war für mich so wichtig und nichts hat mich glücklicher gemacht wie meine Familie.» – Die Nazis haben mit ihrem Morden alles darangesetzt, dass Menschen wie Ivan Gabor Wigdorowits solche Aussagen nicht würden machen können.
Agnes Hirschi wuchs mit ihrer Mutter und Carl Lutz in der Schweiz auf. Nach dem Studium reiste sie, wollte das Leben geniessen. Sie arbeite als Übersetzerin, Journalistin, Kreisrichterin, heiratete und gründete eine Familie. Den Holocaust verdrängte sie. Nach ihrer Pensionierung fand sie die Zeit, ihr Versprechen einzulösen. Das bedeutet für sie zuerst einmal, ihre eigene verdrängte Vergangenheit aufzuarbeiten. «Um zu verstehen, was ich erlebt habe, wer ich bin und wer ich war.» Ein schmerzhafter Prozess. Erinnern holt die Vergangenheit in die Gegenwart. Eine Überlebende sagt nach dem Gespräch für das Buch über Carl Lutz: «Ich sah die Strasse, mein Haus, die Schule, die Kleidung, die wir trugen.» Und etwas später: «Ich arbeite daran, wieder aus diesem Horrorfilm herauszukommen.»
«Ein Vorbild»
Agnes Hirschi setzt sich seit zwanzig Jahren dafür ein, dass die Erinnerung lebendig gehalten wird. «Es ist mir ein Anliegen, dass die junge Generation erfährt, dass Carl Lutz über sich hinausgewachsen ist in Budapest und enorme Zivilcourage bewiesen hat. Er wagte es, sich gegen die Massendeportation der Juden aufzulehnen, hat dabei sein eigenes Leben und seine Karriere riskiert.» Carl Lutz könne jungen Menschen ein Vorbild sein, sagt sie. «Sein Leben zeigt, dass man etwas machen kann, auch wenn die Situation aussichtslos erscheint.» Hätte Lutz damals die Hände in den Schoss gelegt und bloss seine Aufgaben wahrgenommen, wären Zehntausende Juden nicht gerettet worden. Agnes Hirschi sagt: «Carl Lutz wurde nicht nach Budapest geschickt, um Juden zu retten. Er hat sich diese Aufgabe selber gegeben.»
Carl Lutz starb im Alter von 79 Jahren. Zu Lebzeiten bekam er von der Schweiz nie Anerkennung für die grösste Rettungsaktion von Juden im Zweiten Weltkrieg.
Erst als Mitte der 90er-Jahre die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wegen nachrichtenloser Vermögen international in den Fokus geriet, erinnerte sich die Schweiz plötzlich daran, dass es Schweizer gab, die sich im Zweiten Weltkrieg selbstlos dafür einsetzten, Leben zu retten. 1995 wurde Carl Lutz rehabilitiert.
Agnes Hirschi/Charlotte Schallié: Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest – Zeitzeugen berichten. Limmatverlag.